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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Wilhelmstraße im hektischen Berlin entfloh und mit seiner Ankunft sein Feriendomizil in das Führerhauptquartier verwandelte, ließen sich auch andere Prominente mit ihren Familien auf dem Obersalzberg nieder. Martin Bormann natürlich, der selbst ein großes Chalet im innersten Kreis bewohnte und seinen Meister nie aus dem Auge verlor: Er hatte es so bauen lassen, daß er von seinem Balkon aus mit einem Fernglas kontrollieren konnte, wer bei Hitler ein und aus ging. Auch Reichsmarschall Göring hatte ein Haus dort, ebenso Albert Speer, Hitlers Leibarchitekt.
    »In dessen Gestalt er also auch seinen Wiener Jugendtraum in Reichweite hatte«, nickte Herter.
    »Seinen Jugendtraum?« »Baumeister zu werden.«
    »Baumeister …« wiederholte Julia verächtlich. »Abrißunternehmer, könnte man besser sagen. Durch seine Schuld wurde ganz Deutschland in Schutt und Asche gelegt, und nicht nur Deutschland.«
    Das Leben auf dem Berg, fuhr Falk fort, war von einer seltsamen Öde, vor allem, wenn der Chef da war. Weil er als der echte Bohemien, der er immer geblieben war, jeden Abend spät zu Bett ging, durfte er erst um elf geweckt werden. Später, während des Kriegs, hat dies Tausende Soldaten das Leben gekostet. Wenn morgens um acht der Bericht von einem Durchbruch an der Ostfront eintraf und rasch entschieden werden mußte, ob sich die Truppen zurückziehen oder zum Gegenangriff übergehen sollten, wagte es niemand, ihn zu wecken, auch Feldmarschall Keitel nicht. Der Führer schlief! Ratlose Generäle in Rußland, aber der Führer schlief und durfte nicht geweckt werden.
    Ja, ja, ja, dachte Herter. Und wovon träumte er? Er gäbe wer weiß was darum, das zu erfahren. »Hat er Ihnen vielleicht einmal einen Traum erzählt, Herr Falk?« Falk lachte kurz auf.
    »Dachten Sie etwa, er hätte jemanden an sich herangelassen? Der Mann war in sich selbst gefangen … wie … wie … Doch einmal, während des Kriegs, ich meine im Winter zweiundvierzig, da muß er einen Alptraum gehabt haben. Ich wachte auf und hörte ihn schreien, ich nahm meine Pistole und rannte im Schlafanzug zu seinem Schlafzimmer.«
    »Sie hatten eine Pistole?« Falk sah ihn von unten herauf an.
    »Es gab viele Waffen auf dem Obersalzberg, Herr Herter. Er war allein, Fräulein Braun war für ein paar Tage auf Familienbesuch in München. An der Tür standen bereits zwei Leibwachen von der SS mit Maschinenpistolen, aber sie trauten sich nicht hinein, obwohl er möglicherweise ermordet wurde. Die beiden wurden gleich am nächsten Morgen an die Ostfront geschickt. Ich riß die Tür auf und sah ihn im Nachthemd völlig aufgewühlt mitten im Zimmer stehen, triefend vor Schweiß, mit blauen Lippen, zerzaustem Haar, und mit angstverzerrtem Gesicht sah er mich an. Nie werde ich vergessen, was er sagte: › Er … er … er war hier …‹«
    Er? Herter hob die Augenbrauen. Er, vor dem sich jeder fürchtete, vor wem könnte er selbst sich gefürchtet haben? Wer war dieser Er? Sein Vater? Wagner? Der Teufel?
    »Aber wie konnten Sie seine Schreie hören?
    Sagten Sie nicht, Sie wohnten in einem Mehrfamilienhaus auf dem Gelände?«
    Falk wechselte einen Blick mit Julia.
    »Damals nicht mehr.«
    Hitlers asketisches Schlafzimmer hatte keine Tür zum Gang hin, sondern nur eine, die in sein Arbeitszimmer führte. Um elf Uhr legte Falk dort die Zeitungen und ein paar Telegramme auf einen Stuhl und rief: »Guten Morgen, mein Führer! Es ist Zeit!« Meistens erschien der Chef dann in einem langen weißen Nachthemd und mit Pantoffeln an den Füßen, doch einmal rief er Falk zu sich hinein. Er saß auf der Bettkante, Fräulein Braun hockte in einem blauseidenen Morgenrock auf dem Boden; sie hielt einen seiner Füße in ihrem Schoß und schnitt ihm die Nägel. Falk fiel auf, wie weiß der Fuß war.
    »So weiß war er am ganzen Körper«, ergänzte Julia. »Noch vor dem Krieg habe ich ihn einmal nackt gesehen, das muß achtunddreißig gewesen sein …«
    »Nein«, unterbrach Falk sie, »siebenunddreißig.«
    Sie sah ihn unverwandt an und begriff offenbar plötzlich, was er meinte.
    »Ja, natürlich. Siebenunddreißig.«
    Der Chef, sagte sie, blieb praktisch immer bis tief in die Nacht auf, manchmal sogar bis sechs oder sieben Uhr morgens, umgeben von seiner festen Clique, Bormann, Speer, seinem Leibarzt, seinen Sekretärinnen, seinem Fotografen, seinem Chauffeur, seinem Masseur, seiner jungen vegetarischen Köchin, ein paar Ordonnanzen und anderen Mitarbeitern; nie mit der Elite seiner

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