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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Braun sich nichts mehr wünschte, als einen Dackel, doch Hitler fand Dackel zu eigensinnig und ungehorsam. Solche Eigenschaften mochte er gar nicht.
    »Niemand wird es je verstehen«, sagte Falk und schüttelte mit niedergeschlagenem Blick den Kopf. »Es war sehr beängstigend. Jede Bewegung war von vollkommener Beherrschung und Präzision, wie bei einem Akrobaten, einem Trapezkünstler. Natürlich war er ein Mensch wie jeder andere auch, aber gleichzeitig war er auch kein Mensch, er war etwas Unmenschliches, eher so etwas wie ein Kunstwerk, ein …« Er schüttelte den Kopf. »Ich finde keine Worte dafür. Etwas Schreckliches.« »Sie finden sehr wohl die richtigen Worte. Ich selbst brauche ihn nur eine Sekunde lang in einem Film oder auf einem Foto zu sehen, zur Not nur seinen Rücken, dann ist es mir gleich wieder klar. Mit Hilfe der Psychologie kann man ihn nicht erklären, dafür bedarf es eher der Theologie. Dort gibt es einen Ausdruck, der vielleicht auch auf ihn paßt: mysterium tremendum ac fascinans : ›das schreckliche und zugleich verzaubernde Geheimnis‹.« Überrascht sah Falk auf.
    »Ja, so etwas Ähnliches war es.«
    »Eine Erklärung ist das natürlich nicht, das Geheimnis bleibt ein Geheimnis, aber es sagt vielleicht etwas über die Art des Geheimnisses. Nämlich daß er eigentlich niemand war. Ein hohles Standbild, wie Sie schon sagten. Und die Faszination, die er ausstrahlte und bis zum heutigen Tag ausstrahlt, und die Macht, die ihm vom deutschen Volk gegeben wurde, besaß er nicht trotz der Tatsache, daß er seelenlos war, sondern dank dieser Tatsache.« Herter seufzte. »Man muß natürlich aufpassen, daß man ihn nicht – wenn auch mit einem negativen Vorzeichen – vergöttlicht. Doch wenn es den einen Gott nicht gibt«, überlegte Herter, »worauf die Weltgeschichte hindeutet, dann trifft seine Vergöttlichung vielleicht den Kern der Sache. Dann ist er die Vergöttlichung dessen, was nicht existiert.« Vom einen Moment auf den anderen purzelten seine Gedanken durcheinander wie ein Rudel Wölfe beim Angriff auf eine plötzlich unsichtbar gewordene Beute. Am liebsten hätte er sich rasch ein paar Notizen gemacht, doch er fürchtete, Falk dadurch zu verunsichern. Er hörte Julia etwas sagen, aber es drang nicht zu ihm durch. Jedes inspirierende Denken geschieht in einem Augenblick, ein Blitz aus einem bedrohlichen Himmel, erst die donnernde Entfaltung des Gedankens kostet Zeit. Nachher, heute noch, mußte er sich die Zeit nehmen, das zu notieren, was er plötzlich wußte und zugleich noch nicht wußte.
    Denn wenn das alles tatsächlich so stimmte, dann ergab sich daraus vielleicht eine paradoxe Konsequenz. Wenn Hitler die angebetete und verfluchte Personifikation des Nichts war, in dem es nichts gab, was ihn wovon auch immer zurückhielt, dann konnte sein wahres Gesicht auch nicht mit Hilfe eines literarischen Spiegels sichtbar gemacht werden, wie er vorgestern Constant Ernst gegenüber gemeint hatte, weil es nämlich kein Gesicht gab. Dann konnte man ihn eher mit dem Grafen Dracula vergleichen, mit einem Vampir, der sich von Menschenblut ernährt: ein »Untoter«, der kein Spiegelbild hat. Dann unterschied er sich nicht graduell, sondern essentiell von anderen Despoten wie Nero, Napoleon oder Stalin. Das waren dämonische Gestalten, doch auch Dämonen sind noch etwas Positives, während Hitlers Wesen in der Abwesenheit eines Wesens bestand. Auf paradoxe Weise war dann gerade das Fehlen eines »wahren Gesichts« sein wahrer Charakter. Bedeutete dies, daß sein Versuch nur dann erfolgreich sein würde, wenn es ihm nicht gelang, sein enthüllendes Phantasma zu schreiben? In dem Fall war es Hitler zum soundsovielten Mal gelungen zu entwischen, und die Chance sollte er diesmal nicht bekommen.
    Herter erschrak über sich selbst. In welche Regionen begab er sich? Trieb er es nicht zu weit? Es drohte Gefahr. Doch er durfte jetzt nicht zurückschrecken, er spürte, daß es jetzt oder nie gelingen würde, was auch immer passierte, es war ihm gleich; wenn es jemanden auf Erden gab, der dazu in der Lage war, dann er. »Vielleicht bin ich deshalb auf der Welt«, hatte er vorgestern zu Maria gesagt – als wäre auch er ein Gesandter aus dem Ganz Anderen. Doch es schien ihm ratsam, zur Sicherheit einen Erzähler zwischen sich und seine brisante Geschichte zu schieben, gleichsam als Isolator – einen jungen Mann von dreiunddreißig oder so, für den der Zweite Weltkrieg weiter zurücklag als für ihn der

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