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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Partei, seiner Wehrmacht oder seines Staates.
    »Auch hierin blieb er der Wiener Bohemien«, nickte Herter. »Was sollen wir bloß von diesem Mann denken?«
    Julia selbst durfte sich auch oft dazusetzen. Während Ullrich Getränke und Häppchen servierte, wurde in dem großen Saal mit den gigantischen Gobelins, Arno Brekers riesiger WagnerBüste und dem größten Fenster der Welt, auf das Hitler so stolz war, ein Film vorgeführt; nicht selten einer, den Goebbels verboten hatte. Sie hörten auch Schallplatten, Wagner natürlich, aber auch Operetten wie zum Beispiel Franz Léhars Lustige Witwe , und anschließend hielt der Chef einen jener endlosen Monologe, die sich von der fernsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft erstreckten, während seine Gäste kaum noch die Augen offenhalten konnten, nicht zuletzt deshalb, weil sie das alles schon häufiger gehört hatten. Anschließend ging er noch stundenlang in seinem Arbeitszimmer hin und her, während er im Sommer oft noch bis Sonnenaufgang auf dem Balkon seines Arbeitszimmers saß, um in der Stille der Berge und Sterne nachzudenken. »Oder um nicht schlafen zu müssen«, sagte Herter, »denn sonst würde er ihm vielleicht wieder begegnen. Man darf übrigens nicht dran denken, worüber er dort auf dem Balkon nachdachte.« »Das stimmt«, sagte Falk. »Nur gut, daß die Amerikaner das ganze Spukschloß, beziehungsweise das, was nach ihrem Bombardement davon noch übrig war, nach dem Krieg in die Luft gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht haben.«
    Fräulein Braun aber, fuhr Julia fort, zog sich häufig bereits gegen eins auf ihr Zimmer zurück, wo sie ihr dann noch einen Becher Kakao servierte. Eines Nachts klopfte sie an, doch weil Blondi in Hitlers Arbeitszimmer bellte, um die Aufmerksamkeit ihres Herrchens auf sich zu lenken, hörte Julia nicht, ob Fräulein Braun wie sonst immer »Herein« gesagt hatte. Sie öffnete die Tür und sah die beiden mitten im Zimmer stehen, einander zärtlich umarmend, sie im offenen Morgenmantel, einem schwarzen diesmal, er unbekleidet. Sein fleischiger, weißer Körper, hatte etwas Lebloses, noch nie war er der Sonne ausgesetzt gewesen; nur seine Wangen und sein Hals besaßen etwas Farbe, doch die endete abrupt, so daß es aussah, als gehörte sein Kopf zu einem anderen Körper. Julia erinnerte sich noch daran, daß aus der offenen Badezimmertür Dampf und das Geräusch von fließendem Wasser kam. Was die beiden genau machten, konnte sie nicht sehen. Er wandte ihr den Rücken zu und war offenbar erregt. »Patscherl …« hörte sie ihn stöhnen. »Patscherl?« wiederholte Herter.
    »Er hatte eine ganze Reihe von Kosenamen für sie«, sagte Julia. »Feferl, zum Beispiel.«
    »Tschapperl«, fügte Falk mit unbewegter Miene hinzu. »Schnacksi.«
    Fräulein Braun sah sie über seine Schulter an und riß erschrocken die Augen auf. Daraufhin schloß sie schnell und geräuschlos die Tür. Zum Glück hatte er nichts bemerkt.
    »Das hätte ein böses Ende nehmen können«, sagte Falk. »Wenn die beiden nur eine Viertelumdrehung anders gestanden hätten, hätte uns das vielleicht innerhalb von zehn Minuten das Leben gekostet.« Er betupfte mit einem Taschentuch seine Augen, doch der Grund dafür waren nicht Emotionen, sondern allein das Alter.
    Jemand klopfte an die Tür, und ohne auf eine Antwort zu warten erschien ein kleiner bärtiger Mann in einem braunen Kittel. Nach einem raschen Blick durchs Zimmer fragte er mit einem Lächeln, das Herter nicht wirklich gefiel: »Besuch?«
    »Wie Sie sehen«, sagte Falk, ohne ihn anzuschauen.
    Der Mann wartete kurz auf eine nähere Erklärung; als die ausblieb, holte er den Müllbeutel aus einem Küchenschrank und verschwand wortlos.
    Ruhe setzte ein, die Herter mit Absicht nicht störte. Für die meisten Lebenden war Hitler in zwischen nur noch eine Figur aus Actionfilmen oder Komödien, doch diese beiden, Julia und Ullrich Falk, steckten noch voller Erinnerungen an die versunkene Zeit, sie waren dabeigewesen, für sie war alles wie gestern, und sie konnten noch endlos über ihn weitererzählen, und sei es auch nur, um das, was sie eigentlich sagen wollten, hinauszuzögern. Als die Stille peinlich zu werden begann, passierte, was Herter erhofft hatte. Die beiden wechselten einen Blick, und dann stand Falk auf und sah kurz auf dem Gang nach, ob niemand an der Tür lauschte. Er setzte sich wieder hin und sagte:
    »Eines Tages, im Mai achtunddreißig, kurz nach dem Anschluß, kamen Gäste; zusammen

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