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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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war, wie Kinder sagen, »echt passiert«, denn es war unvorstellbar, daß diese beiden uralten Menschen hier in Eben Haëzer sich dergleichen hätten ausdenken können. Bis zu ihrer Niederkunft im November durfte Fräulein Braun jetzt den Führerflügel nicht mehr verlassen. Sie durfte sich nicht an den Fenstern zeigen, und abends durfte in ihrem Zimmer kein Licht zu sehen sein. Nur die Eingeweihten hatten noch Zugang zu ihr, und von dieser Zeit an mußte Julia die Rolle der Schwangeren spielen. Jeden Morgen stellte sie sich mit Fräulein Braun vor den Spiegel und stopfte allerlei Lappen, Handtücher und später Kissen unter ihre Kleider, um das Heranwachsen des Führerkinds naturgetreu nachzuahmen. Dabei ging es immer sehr fröhlich zu, und Fräulein Braun wollte auch immer genau erfahren, wie man unten auf Julias gesegneten Zustand reagierte. Vor allem Hitler selbst bereitete es Vergnügen, sich in Gesellschaft zu erkundigen, wie sie sich fühle. Auch pflegte er sie in Anbetracht ihres Zustands früh zu Bett zu schicken.
    »Ich mußte natürlich aufpassen«, sagte Falk, »daß meine Frau nicht wirklich schwanger wurde, denn dann wäre der ganze Plan zusammengebrochen und Bormann hätte uns umgebracht. Das war früher schwieriger als heute – nicht das Umbringen, meine ich, sondern das Nichtschwanger-Werden.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, seufzte Herter, »das habe ich alles noch miterlebt. Und was machte Fräulein Braun während all der Monate tagsüber?«
    Weil sie natürlich im November irgend etwas erzählen mußte und lieber nicht behauptete, sie habe auf der Piazza San Marco in Florenz Kaffee getrunken und in Rom die Uffizien besichtigt, versorgte der zukünftige Vater sie mit Baedekern, Bildbänden und den Standardwerken von Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien und Cicerone. Blondi zu ihren Füßen, studierte sie täglich in diesen Büchern – wenn er nicht da war, meistens an Hitlers riesigem Eichenholzschreibtisch. Doch um ihr zu helfen, hielt er sich während dieser Monate oft auf dem Obersalzberg auf. Das war auch der Grund, weshalb er während der Vorbereitungen für die Zerschlagung der Tschechoslowakei Chamberlain nicht nach Berlin, sondern auf den Berghof kommen ließ. Neben ihrem Bett lag Goethes Italienische Reise. Den ganzen Tag über zog sie den Morgenmantel nicht aus, ihre Wäsche wusch Julia im Badezimmer. Weil Julia, schwanger wie sie war, lieber in Ruhe auf ihrem Zimmer aß, sie dennoch aber großen Hunger hatte, trug Falk immer eine dreifache Portion hinauf. Außerdem ließ der Majordomus Mittlstrasser eines ihrer Zimmer jetzt mit einer altdeutschen Wiege und einer durch bayrische Schnitzarbeiten verzierten Kommode als Kinderzimmer einrichten.
    »Am Ende«, sagte Julia, nachdem sie sich eine neue Zigarette angezündet hatte, »fühlte ich mich wirklich, als stünde meine Entbindung unmittelbar bevor. Während der letzten Wochen mußte ich alles ruhiger angehen lassen, so wie Dr. Krüger es der angeblichen Frau Falk empfohlen hatte, denn ich wurde ja angeblich schneller müde, und ich weiß noch, daß ich manchmal beleidigt war, wenn der Arzt einen Kontrollbesuch machte und mich natürlich gar nicht zu sehen bekam.«
    Immer wenn er den Berghof mit seinem blubbernden Zweitakt-DKW besuchte, dessen Karosserie aus Pappmaché zu bestehen schien, brachte er eine Atmosphäre der Zivilisiertheit ins Haus. Und dann, am Nachmittag des 9. November, setzten die Wehen ein. Schon den ganzen Tag über herrschte eine gewisse Unruhe im Haus; offenbar waren wieder irgendwelche politischen Aktionen im Gange. Unten im großen Saal, wo eine Reihe von Funktionären sich versammelt hatte, telefonierte Hitler ununterbrochen, auch mit Göring und Himmler in Berlin; das konnte Falk hören, weil er sie mit ihrem Nachnamen ansprach und »Sie« sagte; der einzige, den er je geduzt hatte, schien Röhm gewesen zu sein, der Führer der SA, doch den hatte er bereits vor ein paar Jahren ermorden lassen. Auch Bormann war natürlich anwesend. Währenddessen führte man Fräulein Braun in das Apartment der Falks, denn die Schreie von Mutter und Kind mußten aus der richtigen Richtung kommen. Außerdem stand neben dem Berghof ein Krankenwagen der SS bereit, für den Fall, daß es Probleme gab und Frau Falk nach Salzburg ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Julia hatte sich von den Tüchern und Kissen befreit und half Dr. Krüger bei der Entbindung, die kurz vor Mitternacht stattfand.
    »Und?« fragte

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