Siegfried
seines Schädels hinein.
»Und worin bestand Ihre Aufgabe?« fragte Herter, der sich von seinem Erstaunen immer noch nicht völlig erholt hatte.
»Darin, daß es so aussehen sollte, als sei das Kind von uns«, sagte Falk.
Herter seufzte. Seine eigene Geschichte konnte er jetzt wohl vergessen, seinen literarischen Sohn Otto eingeschlossen, aber das war ihm egal. Er wollte jetzt nur noch ihrer Geschichte lauschen. An jenem Vormittag kümmerte der Chef sich nicht weiter um die Sache. Apathisch, als ginge ihn das alles nichts an, naschte er mit hängenden Schultern vom Kuchen und schaute aus dem Fenster hinüber zum zerklüfteten, respekteinflößenden Felsmassiv des Untersbergs, das über der Baumgrenze grau wie Zigarettenasche war, hier und da lag noch Schnee. Einer süddeutschen Sage zufolge schlief darin der Staufenkaiser Friedrich Barbarossa, bis er seine Augen wieder aufschlagen würde, um in einer Endabrechnung mit dem jüdischen Antichrist das Tausendjährige Reich wiederzuerrichten, wobei in der Ebene von Salzburg das Blut bis zu den Knöcheln stehen sollte. Vermutlich hatte der Führer sich bereits damals den Kodenamen für den drei Jahre später stattfindenden Überfall auf die Sowjetunion ausgedacht: Unternehmen Barbarossa.
Das Drehbuch, das er und seine Vertrauten offenbar entworfen hatten, wurde in den folgenden Monaten und Jahren Schritt für Schritt realisiert. Zunächst, noch in derselben Woche, mußten Ullrich und Julia in den Berghof selbst umziehen. Zwei Gästezimmer in dem Flur, wo auch die Zimmer des Chefs und der Chefin lagen, die bis dahin ausschließlich für persönliche Gäste und Angehörige der Chefin bestimmt waren, wurden ausgeräumt und für sie eingerichtet. Als Grund hierfür sollte angegeben werden, der Führer und Fräulein Braun wollten ihre persönlichen Bediensteten in größerer Nähe haben. Für die restliche Zeit des Kriegs wurde Falk vom Militärdienst freigestellt. Auch mußten sie sehr bald ihre Eltern benachrichtigen, daß sie ein Kind erwarteten. Diese Briefe mußten Bormann vorgelegt werden, der auch künftig ihre ganze abgehende Post kontrollieren würde. Außerdem gab er ihnen zu verstehen, daß sie nicht auf den Gedanken kommen sollten, selbst auch Kinder in die Welt zu setzen – dies würde als Insubordination aufgefaßt. Es hätte nahegelegen, Hitlers Leibarzt, Dr. Morell, ein ehemaliger Modearzt am Kurfürstendamm und Spezialist für die Geschlechtskrankheiten der feinen Gesellschaft, mit der Behandlung von Fräulein Braun zu betrauen, doch das hätte Mißtrauen erwecken können; das übrige Personal war auf den Arzt der SS-Garnison angewiesen, doch der war zu nah am Geschehen. Darum faßte man den Entschluß, den Berchtesgadener Hausarzt Dr. Krüger hinzuzuziehen, einen bereits etwas älteren, distinguierten Herrn mit einem gepflegten weißen Schnurrbart und einer Fliege, dessen Patientin eine gewisse Frau Falk wurde. Bormann persönlich nahm ihm einen Eid ab und schüchterte ihn mit versteckten Drohungen ein. Fräulein Braun war über diese Lösung sehr froh, denn ein Arzt in Uniform widerstrebte ihr; außerdem fand sie, daß Morell stank.
Dann ließ man den Dingen ihren Lauf. Nach ungefähr vier Monaten, im Juli, als der Bauch von Fräulein Braun auch durch Kleider nicht mehr unauffällig verhüllt werden konnte, trat Phase Zwei des Plans in Kraft. Eines Nachmittags, als der Chef sich in Berlin aufhielt, fuhr ein Wagen mit einem unbekannten Chauffeur vor, der ihre leeren Koffer einlud, während sie sich von den Sekretärinnen und Julia verabschiedete, um sich auf eine längere Reise durch Italien zu begeben, wo sie die Kunstdenkmäler studieren wollte. Auch die Sekretärinnen glaubten das nicht – zwischen ihr und dem Führer war es natürlich aus und vorbei, aber keiner wagte, dahingehende Anspielungen zu machen. Tränen flossen, doch Fräulein Braun hielt sich tapfer. Für den Chauffeur, natürlich ein Gestapo-Mann, der gelernt hatte, keine Fragen zu stellen, war sie ein gewisses Fräulein Wolf; er fuhr sie nach Linz, wo sie im Ratskeller eine Kleinigkeit aßen, und mitten in der Nacht kehrten sie zurück auf den Berghof, ohne von einem der zahllosen Posten angehalten zu werden. Das alles hatte Fräulein Braun Julia persönlich berichtet. Herter mußte sich zwingen, nicht mit offenem Mund zuzuhören; seit seiner Kinderzeit hatte keine Geschichte ihn mehr so in ihren Bann geschlagen. Aber es war keine Geschichte – das heißt, sie war nicht ausgedacht, sie
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