Siegfried
Seine Paladine taten genau das, was er wollte, auch ohne Befehl. Sie konnten Menschen vernichten, weil sie zuvor menschlich von ihm vernichtet worden waren.« »Sie formulieren das sehr treffend, Herr Falk. Und wie ging es dann weiter?«
»Es sollte wie ein Unfall aussehen. Es würde keine Ermittlungen geben, denn warum sollte ich meinen eigenen Sohn umbringen? Wie ich es machte, da sollte ich mir selbst etwas einfallen lassen. Es sollte frühestens in einer Woche geschehen – natürlich weil dann niemand mehr einen Zusammenhang mit seiner Anwesenheit herstellte –, aber spätestens in zwei. Dann sagte er ›Heil Hitler‹, und ich konnte gehen.« Herter verzog das Gesicht.
»Von dem, was Sie da sagen, wird mir regelrecht übel, glauben Sie mir. Was ging bloß in diesen Kerlen vor? Haben Sie mit Ihrer Frau darüber gesprochen?«
Julia hatte wieder einen Zug von ihrer Zigarette genommen, und bei jedem Wort kam etwas blaß blauer Rauch aus ihrem Mund, wie bei einem Fabeltier. »Er hat mir erst gegen Ende des Krieges erzählt, was passiert war, nachdem wir in Den Haag im Radio gehört hatten, daß Hitler tot war.« »Einen Tag, nachdem er Eva Braun geheiratet hatte«, sagte Herter. »Wie ist das alles nur möglich? Aus irgendeinem Grund wollte er Siegfried ermorden lassen, wer weiß, vielleicht hatte er erfahren, daß er nicht der Vater war, und am Ende heiratet er die Mutter, die ihn möglicherweise betrogen hat, die er jedoch am Leben ließ. Daraus soll einer schlau werden. Es muß dafür noch einen ganz anderen Grund geben, das ist offensichtlich.« Falk hob kurz beide Arme und ließ sie schlaff auf die Schenkel sinken:
»Rätsel über Rätsel. Durch Nachdenken läßt sich keine Erklärung finden. Niemand wird je die genauen Zusammenhänge erfahren. Es lebt niemand mehr, der noch darüber berichten könnte.« »Und Sie beide? Waren Sie nicht auch in Gefahr? Sie wußten doch zuviel?«
»In dieser Hinsicht hatte ich keine Angst«, sagte Falk. »Dann hätte man sich nicht so einen komplizierten Plan ausgedacht. Dann hätte man uns drei einfach ermordet, damit hatten die Herren keine Probleme, schon gar nicht an einem so hermetisch abgeriegelten Ort wie dem Berghof. Nein, offenbar vertrauten sie uns, und wir hatten Gnade vor ihren Augen gefunden, weil wir uns so gut um Siegfried gekümmert hatten.«
»Wie haben Sie nur diese Tage überstanden?« Falk seufzte und schüttelte den Kopf.
»Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, sehe ich absolut nichts. Ich bin nach dem Krieg mal mit dem Auto verunglückt und hatte eine Gehirnerschütterung; an den Unfall konnte ich mich später auch nicht erinnern.«
Klein und alt hockten Julia und er auf der verschlissenen Couch unter Brueghels vierhundert Jahre alter Bauernhochzeit, wie zwei hyperrealistische Bilder eines amerikanischen Künstlers. »Natürlich wollte ich nichts lieber, als mit Julia darüber reden«, fuhr er fort, »doch welchen Sinn hatte das? Warum sollte ich sie mit etwas so Grauenhaftem belasten, wenn sich daran doch nichts ändern ließ? Ich hatte die Wahl zwischen einem und drei Toten – und die einzige Möglichkeit, dem zu entgehen, war die Flucht, am besten zu dritt. Aber das war ausgeschlossen: Niemand konnte das Führerareal auf dem Obersalzberg betreten, aber es zu verlassen war ebenso unmöglich. Überall standen Wachtposten. Und natürlich hatte Bormann eine verschärfte Bewachung befohlen. Ich habe noch daran gedacht, Dr. Krüger ins Vertrauen zu ziehen, denn das war ein anständiger Mensch; vielleicht hätte er uns in seinem DKW hinausschmuggeln können; doch dazu hätte ich ihn anrufen müssen, und das Telefon wurde natürlich abgehört. Außerdem hätte ich dann auch ihn in Lebensgefahr gebracht. Nein, die Situation war hoffnungslos. Wie ich es auch eine Woche lang drehte und wendete, ich hatte keine Wahl. Ich mußte es tun, und zwar für Julia. Darum mußte es auch für sie wie ein Unfall aussehen.« Erneut setzte Stille ein. Herter versuchte sich vorzustellen, er müsse seinen kleinen Marnix ermorden, um zu verhindern, daß nicht nur er selbst, sondern auch Maria sterben mußte. Schon bei dem Gedanken wurde ihm übel. Wie würde er sich verhalten? Vermutlich käme er mit Maria zu dem Ergebnis, daß es dann besser sei, zu dritt zu sterben. Denn wie sollte man nach einer solchen Tat weiterleben, auch wenn sie unter Zwang geschah? Aber vielleicht bestand der Unterschied darin, daß Marnix ihr eigenes Kind war. »Wollen Sie hören, wie es
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