Siegfried
stellt er sich in Position, hält die Waffe mit beiden Händen und feuert einen Schuß ab, der die schematische Gestalt am Ende der Bahn in den Bauch trifft. Daraufhin ruft Siggi: »Darf ich auch mal, darf ich auch mal?«
Die Welt existiert nicht. Das alles ist gar nicht wahr. Nichts existiert. Er geht in die Knie und zeigt ihm noch einmal, wie er die Pistole halten muß. Zum Spaß richtet er den Lauf aus nächster Nähe auf Siggis Stirn. Als dieser zu lachen beginnt, drückt er ab.
Voller Blutspritzer schaut er weiterhin auf die Stelle, wo soeben noch Siggis Lachen war. Niemand hat etwas gehört oder gesehen. Er schließt die Augen und läßt langsam die Pistole sinken, bis der Lauf den leblosen Körper berührt, und denkt: Nicht ich habe ihn getötet, Hitler hat ihn getötet. Nicht ich, Hitler. Ich. Hitler.
15
Herter saß nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf den Knien, die Hände vor die Augen geschlagen. Als es ruhig blieb, sah er auf, wie wenn er aus einem Traum erwachte. Es schien, als sei es jetzt das Zimmer, das sich in etwas Unwirkliches verwandelt hatte. Auf dem Innenhof bellte ein Hund. Auch Falk hatte seine Augen geöffnet; seine Hände zitterten. Herter sah, daß er erschöpft war, sich aber auch erleichtert fühlte. Durch seine grauenvolle Geschichte war alles nur noch unerklärlicher geworden, doch gleichzeitig war dies der Beweis ihrer Wahrheit, denn sonst hätte er am Ende eine Erklärung für all das geliefert. Unwillkürlich warf er einen Blick auf Falks rechten Zeigefinger, mit dem er vor fünfundfünfzig Jahren den Abzug betätigt hatte, und er mußte sich zwingen, nicht nach dem Foto auf dem Fernseher zu schauen. Einundsechzig wäre Siegfried Falk jetzt, ohne zu wissen, wer er war; regelmäßig würde er, mit Frau und Kindern, seine Eltern in Eben Haëzer besuchen. Falk stand auf und öffnete die Schlafzimmertür einen Spaltbreit und setzte sich wieder hin. Vielleicht hatte er so leise gesprochen, damit Julia nicht hörte, was sie bereits wußte. Wenig später kam sie ins Zimmer und fragte: »Möchten Sie vielleicht ein Glas Wein?«
Ja, Wein, den konnte er jetzt brauchen. Am liebsten würde er sich betrinken und sich von diesem Gespensterschloß, wie Falk es genannt hatte, befreien, neben dem das des Grafen Dracula ein idyl lischer Landsitz war – doch gleichzeitig wußte er, daß es ihm ebensowenig gelingen würde wie den Falks. In Wirklichkeit war die genaue Stelle heute praktisch unauffindbar, soweit er gehört hatte, sie war vollkommen mit Bäumen und Sträuchern überwuchert, durch die eine bestimmte Art von Touristen sich einen Weg zu bahnen versuchten – aber nur in Wirklichkeit, nicht dort, wo es tatsächlich drauf ankam.
Schweigend tranken sie den billigen Wein aus dem Supermarkt, der zu süß war und von dem man nur ein Glas trinken sollte. Herter fühlte, daß er jetzt als erster das Wort ergreifen mußte, doch was konnte er noch sagen? Er schüttelte den Kopf. »Noch nie habe ich eine schrecklichere und unbefriedigendere Geschichte gehört. Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe, Herr Falk. Ich bin sprachlos.«
»Sie brauchen nichts zu sagen. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir zugehört haben. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Ja«, sagte Julia und betrachtete ihr Glas.
Nun konnte er also aufstehen und sich verabschieden, doch das wäre zu plötzlich gewesen. »Und wie ging es weiter?«
»Am nächsten Tag erhielten wir ein Beileidstelegramm von Bormann, im Namen des Führers.« Herter seufzte und schwieg einen Moment. »Wo ist Siggi begraben?«
»Auf dem Friedhof in Berchtesgaden, drei Tage später. Es war eine kleine Trauergemeinde, Julias Eltern, Mittlstrasser, Frau Köppe und noch ein paar andere Hausangestellte. Dort ging die Komödie dann weiter, wir in der Rolle der trauernden Eltern.«
Julia sah auf.
»Aber wir waren wirklich trauernde Eltern.«
»Natürlich, Julia, das waren wir eigentlich auch. Das sind wir immer noch.«
Herter schaute vom einen zum anderen. Es schien, als gäbe es in diesem Punkt Spannungen. »Haben Sie sein Grab später noch einmal besucht?« fragte er Julia.
»Nein. Es sollte ein Grabstein mit seinem Namen aufgestellt werden, doch wir wurden bereits vorher versetzt.«
»Nach Den Haag.«
»Ja, bereits eine Woche später. Mittlstrasser sagte, in einer anderen Umgebung fiele es uns gewiß leichter, den tragischen Unfall zu vergessen.« »Wußte Seyß-Inquart, was genau vorgefallen war?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Falk,
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