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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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einzureden, es habe sich um einen Gnadenschuß gehandelt; als ihm das nicht gelang, begrub er die Erinnerung in sich und dachte nie wieder daran.
    Er steckt seine Pistole ein und geht in die Küche, wo Siggi ein Stück Butter und einen halben Riegel Vollmilchschokolade in seinen Haferbrei rührt, wie er es von seinem Vater gelernt hat. Henkersmahlzeit. Wozu noch essen? Er wird nicht einmal mehr Zeit haben, es zu verdauen. Zeit! Julia hat sich bereits ihre ersten Ukraina angezündet und geht leise singend umher:
    »Es gebt alles vorüber, Es geht alles vorbei.«
    Die Zeit ist härter als der Granit, der das Haus umgibt, nicht die kleinste Schramme kann man hineinkratzen. Das Bewußtsein, daß sie, ohne es auch nur zu ahnen, das Kind jetzt zum letzten Mal sieht, schneidet ihm fast noch tiefer in die Seele als der Gedanke an das, was er nachher tun muß. Abrupt steht er auf. »Wir müssen gehen.«
    »Zieh auch deinen Schal an, Siggi, erkälte dich nicht. Und paßt um Gottes willen auf.« Als sie nach draußen kommen, ist die Luft voller glitzernder Eisnadeln, die bewegungslos in der naßkalten Luft zu schweben scheinen.
    »Schau Papa, die Mutter unseres lieben Herrgott hat ihr Nadelkissen aus der Hand fallen lassen.« Ein Schluchzen durchzittert Falks Brust, und er nimmt Siggi an die Hand. Während sie die Almwiese hinaufgehen, macht der Junge pausenlos wilde Bocksprünge, als wolle er fliegen. Zwischen den Tannen werden sie mit einem »Heil Hitler« von einer SS-Patrouille mit angeleintem Schäferhund und Karabinern über der Schulter angehalten. Nachdem Falk seinen Passierschein gezeigt hat, der ihm von Mittlstrasser ausgestellt wurde, fragt Siggi: »Papa, wie ist das Wasser entstanden?« »Das weiß ich nicht.« »Ob Onkel Wolf das vielleicht weiß?«
    »Bestimmt. Onkel Wolf weiß immer alles.«
    »Aber nicht, daß Tante Effi raucht, wenn er nicht da ist.«
    »Das vielleicht auch.«
    Gebrüllte Befehle sind jetzt zu hören, doch Siggi scheint sie nicht zu bemerken. Während sie weitergehen, schaut er nachdenklich zu Boden und sagt nach einer kleinen Weile:
    »Aber wenn man alles weiß, woher weiß man dann, daß man wirklich ›alles‹ weiß?« »Auch das weiß ich nicht, Siggi.«
    »Ich weiß auch eine ganze Menge, doch wie kann ich erfahren, was ich alles weiß?«
    Falk antwortet nicht. Welche Martern! Die Welt dürfte nicht existieren, die Welt ist ein schrecklicher Irrtum, eine sinnlose Mißgeburt – so sinnlos, daß nichts, absolut nichts einen Sinn hat. Alles wird vergessen werden und schließlich verschwinden und dann nie geschehen sein. Und es ist dieser Gedanke, der ihm die lasterhafte Kraft gibt, das zu tun, was er tun muß. Er holt tief Luft und läßt Siggis Hand los.
    Der große Exerzierplatz ist von Kasernen, Kantinen, Garagen und Verwaltungsgebäuden umgeben. Flankiert von einer Hakenkreuzfahne und einer schwarzen SS-Fahne, sind behelmte Truppen angetreten und bewegen sich kollektiv mit derselben Disziplin wie der Körper des Chefs in der Öffentlichkeit. Durch die Turnhalle gehen sie zu der Treppe, die zum unterirdischen Schießstand führt, und Falk denkt: – Was macht es schon, daß er jetzt zum letzten Mal das Tageslicht gesehen hat. Eine Stahltür, deren Aufgabe vor allem darin besteht, daß der Chef in seinen welthistorischen Reflexionen nicht gestört wird, schließt sich hinter ihnen.
    »Das hier ist vielleicht doch nicht der richtige Ort für Kinder«, sagt der diensthabende Untersturmführer kopfschüttelnd in das Knallen und Rattern hinein, nachdem er Mittlstrassers Bescheinigung gelesen hat. »Aber gut, heutzutage ist ganz Deutschland ein einziges Tohuwabohu.« Ja, Mittlstrasser, der ist natürlich auch in das Komplott eingeweiht, vielleicht aber auch nicht; es ist Falk egal. Siggi ist über den Lärm in diesem Raum aus Beton begeistert, er ruft etwas, das Falk nicht versteht. Auf dem größten der drei Schießstände, der um die hundert Meter lang und in grelles elektrisches Licht getaucht ist, liegen zwei Soldaten im Kampfanzug hinter ratternden Maschinengewehren, während Ausbilder mit Ferngläsern die Ergebnisse kontrollieren. Der zweite Schießstand, wo mit Gewehren geschossen wird, ist kürzer; der dritte, noch kürzere, wird zur Zeit nicht benutzt. Ein Unterscharführer ruft im Vorbeigehen mit Blick auf Siggi:
    »Haben sie diesen Jahrgang jetzt auch schon eingezogen?«
    Falk holt seine durchgeladene 7.65er Pistole hervor und zeigt Siggi das Magazin mit den Kugeln. Breitbeinig

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