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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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mähten das Gras, Vögel sangen in den Bäumen – alles hätte so idyllisch sein können, wäre da nicht überall in der Erde das gedämpfte Lärmen der Preßlufthämmer zu hören gewesen. Auch er war ein wenig beunruhigt, doch was sollte schon sein? Niemand hatte etwas verbrochen. Als sein Kollege ihn einließ, hörte er irgendwo in der Tiefe des Hauses das Lachen und Plappern von Bormanns Kindern. Der Reichsleiter empfing ihn in seinem Arbeitszimmer, ein wenig breitbeinig stand er da, die Hände in die Seiten gestemmt. »Falk«, hatte er gesagt, »wir können es kurz machen. Ermannen Sie sich.« Falk konnte einen Moment lang nicht weitersprechen. Es war, als würde er noch kleiner; er senkte sein Haupt, rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und sagte dann mit erstickter Stimme: »Er sagte: ›Auf Befehl des Führers müssen Sie Siegfried töten.‹«

14
    Herters Kinnlade klappte herunter. Wo war er? Das konnte unmöglich wahr sein! Neben sich hörte er Julia in ihr Taschentuch weinen. Hatte er es also tatsächlich getan? Das war doch unvorstellbar! Und warum, warum mußte es geschehen? Als er bemerkte, daß Falk zu Julia hinübersah, stand er auf und machte mit einer Geste den Vorschlag, die Plätze zu tauschen. Nachdem Falk auf der Couch Platz genommen hatte, legte er seine Hand auf Julias, und, den beiden gegenübersitzend, spürte Herter in dem kleinen Sessel Falks Wärme.
    »Ich traue meinen Ohren nicht«, sagte er. »Sie sollten Siegfried töten ? Hitlers Sohn, nach dem er so verrückt war? Warum bloß?«
    »Das weiß ich bis heute nicht«, sagte Falk. »Ich hatte das Gefühl, als verwandelte ich mich in eine Eissäule. Als ich die Sprache wiedergefunden hatte, stellte ich natürlich auch diese Frage, doch Bormann schnauzte mich an: ›Ein Befehl wird nicht begründet, der wird erteilt. Der Führer ist der letzte, der sich Ihnen gegenüber verantworten müßte.‹ Mir war klar, daß es keinen Sinn hatte, weiter darüber zu reden. Der Chef hatte seinen unergründlichen Entschluß gefaßt, und folglich mußte es geschehen. Sie müssen wissen, daß damals ein Führerbefehl im buchstäblichen Sinn Gesetzeskraft hatte. Ich wagte noch zu fragen, welche Folgen es für mich hätte, wenn ich mich weigerte.«
    »Und?« fragte Herter, als Falk nicht weiterredete. »Dann würde Siegfried trotzdem sterben, denn er war zum Tode verurteilt. Das war unumstößlich. Der Führer nahm nie einen Entschluß zurück. Außerdem aber kämen Julia und ich in ein Konzentrationslager, und ich könne mir doch wohl ausmalen, was das bedeutete. Wenn ich meine Frau liebte, sagte er, dann sei es vielleicht klüger, wenn ich mich nicht weigerte.«
    »Und Fräulein Braun? Wußte sie davon?«
    »Ich weiß es nicht, Herr Herter. Ich weiß nicht mehr als das, was ich Ihnen erzähle.«
    »Ich bin sprachlos«, sagte Herter. »Was waren das nur für Wesen? Sie waren das, was sie von den Juden behaupteten: Ungeziefer, das die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Welcher Abschaum. Aber das wußten wir ja bereits.« »Tja, das sagen Sie heute, ich wußte es damals eigentlich nicht. Zum ersten Mal in all den Jahren wurde mir in diesem Moment schockartig bewußt, mit was für Leuten ich es zu tun hatte. In meiner Naivität waren sie für mich nur das, was ich von ihnen zu sehen bekam. Hitler konnte toben und wüten, wenn es um politische Dinge ging, doch das tat er beruflich; ansonsten war er die Höflichkeit in Person, genauso wie ein Profiboxer, der zu Hause ja auch niemanden niederschlägt. Göring hat mir einmal jovial zugeblinzelt, und ich weiß noch, daß dieser schreckliche Heydrich einmal während des Mittagessens eine Rose aus der Vase zog und sie Julia galant überreichte. Weißt du noch, Julia?« Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
    »Vor dem, was sie sonst noch so taten, verschloß ich die Augen. Ich ahnte natürlich, daß schreck liche Dinge passierten, denn man hörte dies oder jenes, doch wissen wollte ich es nicht. Auch mit Julia redete ich nicht darüber. Nur Bormann, der sich nie entspannen konnte, hatte immer so etwas Unheilverkündendes, obwohl er doch gar nicht der größte Verbrecher in dieser Gesellschaft war.« »Aber er war immer noch Verbrecher genug«, sagte Herter, »um Sie mit dem Tod Ihrer Frau zu erpressen.«
    »Natürlich. Er war Hitlers verlängerter Arm.« »Genau wie all die anderen.«
    »So ist es. Er hatte fast das gesamte deutsche Volk in sich selbst verwandelt, und er wollte dies mit der ganzen Menschheit tun.

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