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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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weiterging?« fragte Falk.
    Nein, er wollte es nicht hören, aber Falk wollte es erzählen. Herter machte eine kaum sichtbare Bewegung mit dem Kopf, woraufhin Julia aufstand und ins Schlafzimmer ging. Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, schloß Falk die Augen, um sie während seines ganzen Berichts nicht mehr zu öffnen. Als würde auch Herter in die Finsternis hinter Falks Augenlidern aufgenommen, wo dieser das Drama noch einmal abrollen sah, lauschte er der leisen Stimme, wobei ihn das Gefühl überkam, als versinke Haus Eben Haëzer, als sei er durch die Worte hindurch körperlich im Erzählten zugegen, dort an diesem verfluchten, vor mehr als einem halben Jahrhundert zerstörten Ort – alles sieht, alles hört … Eine Minute bevor der Wecker klingelt, schlägt Falk die Augen auf. Sofort bricht ihm der Schweiß aus. Heute. Unzählbar oft hat er es sich während der zwei Wochen vorgestellt, aber jetzt, da es soweit ist, der letzte Tag, ist es vollkommen anders. Er schaltet den Wecker aus und schaut auf Julias Hinterkopf. Sie schläft ruhig atmend. Verwirrt, am ganzen Leib zitternd, steigt er aus dem Bett und zieht die Vorhänge auf. Ein naßkalter, grauer Herbsttag, die Gipfel der Alpen unsichtbar geworden im heranziehenden Winter. Die Welt hat ein anderes Gesicht bekommen. Er fühlt sich wie ein Todkranker, der beschlossen hat, daß heute sein letzter Tag sein wird. Nachher kommt heimlich der Arzt mit der Spritze. Jetzt schläft er noch, der befreundete Arzt, der bereit ist, das Risiko auf sich zu nehmen, oder er liest die Zeitung, eine Tasse Kaffee in der Hand. Russische Offensive im Memelgebiet. Überall stirbt man seit Jahr und Tag in Massen. Sterben ist unbedeutend geworden. Führerbefehl hat Gesetzeskraft. Die Unwiderruflichkeit dieses Gesetzes ist härter als der Granit der Alpen. In ein paar Stunden muß er diesem Gesetz gehorchen.
    Gähnend dreht Julia sich auf den Rücken und verschränkt die Hände unter dem Kopf.
    »Ist was, Ullrich?«
    »Ich habe schlecht geschlafen.«
    »Ist Siggi schon wach?«
    »Ich glaube, ich habe ihn schon gehört. Ich habe versprochen, ihm heute den Schießstand zu zeigen. Er bettelt schon seit Wochen darum.«
    Seufzend schlägt Julia die Decke beiseite und steht auf.
    »Warum seid ihr Männer nur immer so auf diese dumme Gewalt versessen? Wenn Siggi ein Mädchen wäre, hätte sie nicht darum gebettelt.« »Dieser Unterschied hat eine lange Geschichte, glaube ich.«
    Siggi hat sich bereits angezogen. In seiner kurzen Hirschlederhose mit Hornknöpfen sitzt er auf dem Fußboden und bewegt langsam einen roten Magneten um seinen Kompaß herum.
    »Schau mal, Papa, die Nadel ist verrückt geworden. Und weißt du, warum? Weil der Magnet die Form eines Hufeisens hat. Die Nadel will sich losreißen und glücklich werden, denn ein Hufeisen
    bringt Glück, aber sie hängt fest, wie ein Hund an der Kette.«
    Marnix. Genau dasselbe hätte Marnix auch sagen können.
    Dieses Kind! Falk hat das Gefühl, seine Adern füllten sich mit flüssigem Blei. In den dreiunddreißig Jahren seines Lebens ist ihm noch nie ein solcher Gedanke gekommen. Was ist das nur für eine Welt? Es ist doch unglaublich, daß er dieses kleine Leben nachher vernichten wird! Muß er nicht auf der Stelle seine Pistole nehmen und sich selbst eine Kugel durch den Kopf jagen? Doch was geschieht mit Julia? Plötzlich muß er daran denken, daß er schon einmal auf jemanden geschossen hat, vor neun Jahren, im Bundeskanzleramt in Wien, während des mißglückten Putschversuchs. In dem Chaos und dem Lärm von Schüssen, Schreien, explodierenden Handgranaten und zersplitterndem Glas sah er auf einmal in einem verlassenen Eckzimmer Dollfuß vornüber auf dem Teppich liegen, stöhnend und nach einem Priester rufend: Er erkannte ihn sofort, der Bundeskanzler war nur wenig größer als Siegfried. Er blutete aus einer Wunde unter dem linken Ohr. In diesem Moment kroch die Gewalt auch in ihn, und ehe er es wußte, hatte er einen Schuß auf ihn abgefeuert. Ein paar Tage später gab Otto Planetta zu, den ersten, vermutlich schon tödlichen Schuß abgegeben zu haben; er wurde innerhalb einer Woche verurteilt und aufgehängt. Der zweite Schuß, von einem anderen Kaliber, blieb immer ein Rätsel, über das bis heute spekuliert wird. Aus Scham hatte er nie jemandem davon erzählt, auch Julia nicht, auch nicht, als die Putschisten nach dem Anschluß als Helden verehrt wurden, und nach dem Krieg ebensowenig. Er versuchte sich

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