Siegfried
Koffergrammophon, entartete Negermusik, so wie das Wasser eines über die Ufer getretenen Flusses allmählich durch den Deich dringt. Auch die anderen hohen Funktionäre verließen dann den Berg, der plötzlich bedeutungslos geworden war. Julia erinnerte sich noch daran, daß Frau Speer einmal beim Abschied von Fräulein Braun zu ihr, Julia, sagte, Siggi sähe ihr immer ähnlicher. Fräulein Braun mußte ein wenig lachen und verzog gleichzeitig ihren Mund zu einem Schmollen. »Mitte Juli vierundvierzig«, sagte Falk, »Siggi war fast sechs, reiste der Chef wieder einmal Richtung Wolfsschanze ab. Der Abschied von Fräulein Braun und Siggi dauerte lang, als spürte er, daß er den Berghof nie wiedersehen würde. Damals schon hatte er sich in einen alten, gebückten Mann verwandelt.« Falk richtete sich ein wenig auf und sah Herter fest in die Augen. Nach einem kurzen Zögern sagte er: »In der Woche darauf verübte Graf Stauffenberg sein Attentat. Fräulein Braun war verzweifelt, weil sie ihrem Geliebten nicht beistehen und nur mit ihm telefonieren konnte, denn er wollte, daß sie bei Siegfried blieb. Er schickte ihr aber seine zerfetzte und blutige Uniform. Und dann, zwei Monate später, begann auch für uns die Katastrophe.«
Herter sah, daß Falk plötzlich einen Entschluß gefaßt hatte, wie jemand, der sich nicht traut, aus einem brennenden Haus in das Sprungtuch zu springen, und es dann auf einmal doch tut. Neben sich hörte er ein unterdrücktes Schluchzen Julias, doch er zwang sich, nicht zu ihr hinzuschauen. »Es tut mir leid, Herr Herter, doch was ich Ihnen jetzt erzähle, ist vollkommen unbegreiflich – nicht nur für Sie, sondern auch für uns, immer noch. Der Chef hatte schon seit ein paar Tagen nicht mehr angerufen, und wenn Fräulein Braun versuchte, ihn zu erreichen, sagte man ihr stets nur, er habe viel zu tun und keine Zeit, ans Telefon zu kommen. Das beunruhigte sie sehr, doch was sollte sie machen? Am Freitag, dem zweiundzwanzigsten September, einem strahlend schönen ersten Herbsttag, ich werde es nie vergessen, fuhr gegen Mittag plötzlich Bormann in einem geschlossenen Wagen an der großen Treppe vor, begleitet von einem kleinen Gefolge in einem zweiten Wagen. Schon das fand ich merkwürdig: Im Sommer fuhren die Herren sonst immer mit offenem Verdeck. Und was konnte im übrigen passiert sein, daß er bereit war, seinen Meister ein paar Tage aus den Augen zu lassen? Ich hatte die Uniformen und Anzüge des Chefs zum Lüften auf den Balkon gehängt und war dabei, seine Schuhe und Stiefel zu putzen, denn ich wußte natürlich nicht, daß er all diese Sachen nie wieder tragen würde; auch in Berlin und in den anderen Hauptquartieren verfügte er über eine umfangreiche Garderobe. Alles war auf Maß geschneidert, und ich wußte, wie genau er es mit seiner Kleiderordnung nahm. Seine Uniformen, Mäntel, Mützen, alles entwarf es selbst, genau wie seine Gebäude, seine Flaggen, Standarten und Massenaufmärsche. Wenn es auch nur irgendwo eine kleine Falte gab, die ihm nicht gefiel, ließ er Herrn Hugo kommen, seinen Schneider.«
Es war deutlich, daß Falk immer noch versuchte, das, was er sagen wollte, hinauszuzögern. Herter nickte.
»Er war ein Perfektionist.«
»Ullrich kam sofort und berichtete uns, was er gesehen hatte«, sagte Julia. »Ich war mit Frau Köppe in der Bibliothek, die sich auch im Obergeschoß befand. Wir klopften am offenen Fenster Bücher aus, Fräulein Braun las aus Struwwelpeter vor, während Siggi ununterbrochen Kopfstand machte oder sich der Länge nach rückwärts auf die Couch fallen ließ. Die Bibliothek war der einzige Raum auf dem Berghof, in dem es ein wenig gemütlich war. Hin und wieder hörte man tief unten im Berg das Dröhnen des Dynamits.«
Falk betrachtete kurz das Lächeln, das auf Herters Gesicht erschienen war und das er natürlich nicht verstand – Herter lächelte, weil er sich plötzlich vorstellte, welche Bücher damals am offenen Fenster gegeneinander geschlagen wurden: Schopenhauer gegen Gobineau, Nietzsche gegen Karl May, Houston Stewart Chamberlain gegen Wagner …
»Erschrocken sahen wir uns an«, sagte Falk, und es war, als sei der Schreck nach über fünfzig Jahren wieder in seinen Augen zu sehen. »Ein wenig später, vermutlich nachdem er mit Mittlstrasser gesprochen hatte, kam Bormann nach oben. Ich weiß nicht … am Stampfen seiner Stiefel auf der Treppe hörte ich irgendwie, daß etwas nicht stimmte. Es klang ein klein wenig zu laut, als
Weitere Kostenlose Bücher