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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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hielten es sogar für unsittlich, ihn verstehen zu wollen. Doch nun stelle er, Herter, sich ihm in den Weg.
    »Vielleicht, Rudi«, unterbrach Maria ihn vorsichtig, »wäre es vernünftig, wenn du jetzt damit aufhörst. Fürchtest du nicht, daß auch du völlig auf den Mund geschlagen wirst?« Er schüttelte den Kopf.
    »Ich kann nicht mehr zurück, es ist zu spät. Ich habe begriffen, warum Hitler unbegreiflich ist und es auch immer bleiben wird: weil er die Unbegreiflichkeit in Person war – das heißt: in Unperson. Ein alter Stern wird unter gewissen Umständen zu einer von einem Schwarzen Loch umgebenen Singularität, aber Hitler ist nicht zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens durch bestimmte Umstände zu dem infernalen Schrecken geworden – zum Beispiel durch die Brutalität seines widerlichen Vaters oder den grausamen Krebstod seiner Mutter, die bei einem jüdischen Arzt in Behandlung war, oder durch einen Gasangriff im Ersten Weltkrieg, der ihn zeitweise erblinden ließ. Andere haben fürchterlichere Dinge erlebt und sind dennoch kein Hitler geworden. Sie hatten einfach nicht die Voraussetzungen, die Hitler bereits besaß, bevor er irgend etwas erlebt hatte – nämlich ebendieses Fehlen aller Werte. Nicht irgendeine Erfahrung fraß seine Seele auf, er war seit seiner Geburt der Schrecken. Nero hatte den Status eines Gottes, doch das war eine Apotheose, die dem Menschen Nero eines Tages von anderen Menschen zuerkannt wurde: lauter positive Fakten. Hitler aber war von Anfang an die Materialisation des Ganz Anderen: die Personifizierung des nichtenden Nichts, die wandelnde Singularität, die notgedrungen nur als Maske sichtbar werden konnte. Deswegen war er auch kein Schauspieler, kein Histrio, für den er oft gehalten wird, sondern eine Maske ohne Gesicht dahinter: eine lebende Maske. Ein wandelnder Harnisch, in dem niemand steckte.« Er dachte kurz an Julia, die ihn, anders als ihr Mann, auch nur für einen Schauspieler gehalten hatte. »Du meinst also, er war einmalig«, sagte Maria mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen. »Ja, ich fürchte, er war einmalig.«
    »Das fand er selbst auch. Er hatte also recht.«
    »Ja, wir müssen endlich wagen dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Nur abgesehen davon, daß man eben nicht von einem ›Selbst‹ reden kann. Darum kann man ihn eigentlich auch nicht ›schuldig‹ sprechen, das ist bereits zuviel der Ehre und eine Verkennung seines nichtswürdigen Status. Aber ich verstehe, was du meinst. Aufgrund dieser paradoxen Unmenschlichkeit haftet ihm etwas unerträglich Sakrales an, und sei es auch nur im negativen Sinne. Das ist nur akzeptabel, wenn es irgendwie bewiesen werden kann. Aber wie kann man ›nichts‹ beweisen?«
    Plötzlich saß er aufrecht im Bett und starrte mit großen Augen vor sich hin. Zu seiner Bestürzung – doch zugleich zu seiner Freude, denn so ist der dubiose Charakter des Denkens – dämmerte ihm etwas, das einem Beweis recht nahe zu kommen schien.
    »Augenblick … Mensch, Maria, ich glaube, ich mache gerade eine Entdeckung«, sagte er in das Diktiergerät, als heiße es Maria. »Es ist aberwit zig, aber vielleicht … Ich bin aufgeregt, ich muß die Sache langsam angehen, ruhig, Schritt für Schritt, das Eis ist glatt … Hör zu. Vor tausend Jahren formulierte Anselm von Canterbury einen zerschmetternden Gottesbeweis, der ungefähr so lautete: Gott ist vollkommen, also existiert er, denn sonst wäre er nicht vollkommen. Kant hat dies später als ›ontologischen Gottesbeweis‹ bezeichnet, aber das trifft natürlich überhaupt nicht zu, denn der Beweis vollzieht nur scheinbar den Übergang vom Denken zum wirklichen Sein. On bedeutet im Griechischen ›das Seiende‹. Es handelt sich vielmehr um einen ›logischen Gottesbeweis‹. Doch ich glaube, daß ich nun wahrhaftig dessen Spiegelbild zu fassen habe: einen echten ontologischen Beweis für die These, daß Hitler die Manifestation des nicht existierenden, nichtenden Nichts war.« Maria sah ihn ironisch an.
    »Ein ziemlicher Aufwand für sowenig Masse.«
    »Tja, wie soll man das Unsagbare sagen?«
    »Hat Wittgenstein nicht gesagt, darüber solle man schweigen?«
    »Dann kommt man doch nie einen Schritt weiter. Übrigens auch wieder so ein Wiener. Ich lasse mir den Mund nicht von Wienern verbieten, mein Vater war der letzte, der die Macht dazu hatte, aber auch nicht sehr lange.«
    »Das klingt, als wurmte dich das bis heute.«
    »Laß bloß die Psychologie aus dem Spiel, Maria. Nichts ist

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