Siegfried
»glaube es aber nicht. Das erste, was er bei unserer Begrüßung tat, war, uns sein Beileid wegen unseres Verlusts auszusprechen. Welchen Grund gab es, ihn über alles zu informieren?«
»Keinen«, nickte Herter. »Für Hitler war SeyßInquart auch nur ein kleiner Kapo, auch wenn er ihm Österreich verschafft hatte.«
Das Telefon in seiner Brusttasche vibrierte. Er entschuldigte sich und holte es hervor.
»Hallo?«
»Ich bin's. Wo treibst du dich herum?«
»Im Krieg.«
»Du denkst doch an unseren Flug?«
»Ich komme gleich.« Er unterbrach die Verbindung und konnte endlich wieder auf seine Uhr sehen: halb vier. »Das war meine Freundin, sie macht sich Sorgen, daß wir unser Flugzeug verpassen.«
»Sie reisen heute noch zurück nach Amsterdam?«
»Ja.«
»Ich war einmal dort«, sagte Falk, während er sich erhob, »mitten im sogenannten Hungerwinter. Alle Gebäude standen noch, aber es war eine versengte, tödlich verwundete Stadt. Ich erinnere mich noch daran, daß in den Grachten von einem Ufer bis zum anderen Müll schwamm.« Als auch Herter aufstand, nahm er das Exemplar der Erfindung der Liebe und schrieb mit seinem Füller auf die Titelseite:
Für Ullrich Falk,
der in den Zeiten des Bösen
der Liebe
ein unvorstellbares Opfer brachte.
Und für Julia.
Rudolf Herter
Wien, November 1999
Er blies kurz auf das Geschriebene und schlug das Buch zu, so daß sie es erst lasen, wenn er gegangen war.
»Haben Sie vielleicht eine Visitenkarte?« fragte Falk.
»So weit habe ich es noch nicht gebracht«, sagte Herter, »aber ich werde Ihnen alles aufschreiben.« Er schrieb seine Adresse und seine Telefonnummer auf eine Seite seines Notizbuchs und riß diese heraus. »Sie können mir jederzeit schreiben oder mich anrufen – auf meine Kosten, natürlich.« Falk las den Zettel, und während er seinen Rücken ein wenig streckte, sagte er:
»Ich werde das Frau Brandtstätter geben und ihr
auftragen, daß sie Sie informieren soll, wenn der letzte von uns gestorben ist. Danach sind Sie frei und können tun und lassen, was Sie wollen.« Herter schüttelte den Kopf.
»Sie sterben nicht so bald, das sehe ich.
Nicht mehr lange, und Sie beginnen ein neues Jahrhundert.«
»Uns reicht dieses«, sagte Julia steif.
Sie verabschiedeten sich voneinander. Herter gab Julia einen Handkuß und dankte Falk für sein Vertrauen.
»Im Gegenteil«, sagte Falk, »wir haben Ihnen zu danken. Wenn Sie uns nicht Ihr Ohr geliehen hätten, wäre von Siegfried gar nichts übriggeblieben. Dann wäre es, als hätte es ihn nie gegeben.«
16
Als er ins Hotelzimmer kam, war Maria dabei, den auf dem Bett liegenden Koffer zu packen. Er schloß die Tür hinter sich und sagte: »Ich habe ihn verstanden.«
»Wen?« fragte sie, während sie sich aufrichtete. »Ihn!«
»Du machst einen verwirrten Eindruck, Rudi. Was ist geschehen?«
»Zuviel. Ich bin besiegt. Die Phantasie ist nichts.
Exit Otto.«
»Otto? Wer ist Otto?«
»Vergiß ihn, es gibt ihn nicht mehr. Der Feind des Lichts wird nicht geschrieben werden. Die Phantasie kann es nicht mit der Wirklichkeit aufnehmen, die Wirklichkeit schlägt die Phantasie bewußtlos und krümmt sich vor Lachen.« »Hast du vielleicht getrunken?«
»Ein Glas eines fürchterlichen Gesöffs, doch jetzt möchte ich ein Glas Nektar, um auf die Eule der Minerva zu trinken, die in der Dämmerung ausfliegt.«
»Wovon redest du bloß?« fragte Maria und ging vor der Minibar in die Knie.
»Daß die Erkenntnis eine melancholische Nachspeise der Kreativität ist, ein schwacher Trost für die Scheiternden.«
»Nur gut, daß ich dich kenne, sonst würde ich sagen, du redest irr. Ich finde, du siehst schlecht aus.«
»Ich bin zu Tode betrübt.«
»Leg dich ein bißchen hin.«
Er schob den Koffer beiseite und tat, was sie gesagt hatte. »Hast du was erfahren bei den Alten?«
»Diese Alten, wie du sie nennst, waren die persönlichen Bediensteten von Hitler und Eva Braun, und ich habe etwas Weltbewegendes erfahren, etwas absolut Unglaubliches, das einem das Blut in den Adern gefrieren läßt, und etwas gleichzeitig Unbegreifliches – aber ich habe mit erhobener Hand geschworen, es niemandem weiterzuerzählen, solange die beiden noch leben.« »Auch mir nicht?«
»Das Problem besteht darin, daß du auch jemand bist.«
»Und wenn du morgen von der Straßenbahn überfahren wirst?«
»Dann wird es nie jemand erfahren. Aber ich werde zu Hause alles aufschreiben und bei einem Notar deponieren. Gib mir doch bitte
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