Siegfried
je vergangen. Gut, fahren wir fort. Ich muß etwas weiter ausholen.«
Das Drama des zwanzigsten Jahrhunderts, dozierte er, begann mit Plato, als er seine Vorstellung von einer Welt der Ideen hinter der sichtbaren Welt formulierte. Das führte geradewegs zu Kants der Erkenntnis nicht zugänglichem Ding an sich. Nach ihm verlief die Entwicklung in zwei Richtungen, eine optimistische und eine pessimistische. Die optimistische Strömung war die rational-dialektische Hegels, die über Marx zu Stalin führte – doch vielleicht sollte man fairerweise sagen: zu Gorbatschow. Wie er bereits gesagt hatte, ging von Hegel auch die Tradition des Nichts aus, mit Kierkegaard, Heidegger und Sartre als existentialistischem Seitenarm; er müsse noch einmal genauer darüber nachdenken, wie das im einzelnen war. Der Erzvater der pessimistischen, irrationalen Strömung war Schopenhauer. Bei ihm wurde das ewige Ding an sich zu einem düsteren, dynamischen »Willen«, der die ganze Welt regiert, inklusive der Planetenbahnen, und der im Individuum die Gestalt von dessen Körper angenommen hat. Er sah Maria an.
»Du merkst, daß wir uns der Sache langsam nähern.«
»Ehrlich gesagt …«
»Nein, laß mich fortfahren, bevor ich den Faden verliere. Wenn du das Band abgeschrieben hast, erkläre ich's dir. Und schenk mir noch ein Glas ein, denn wir nähern uns nun dem Kern des Ganzen: der Musik.«
Nach Plato, sagte er, der im Geiste des Pythagoras behauptete, die Welt sei nach den Gesetzen der musikalischen Harmonie geschaffen, hat niemand der Musik eine größere Huld bezeugt als Schopenhauer. Für ihn war sie nichts Geringeres als das Abbild seines Weltwillens. Wenn es jemandem gelänge, schrieb er einmal, mit Begriffen auszudrücken, was die Musik ist, dann wäre das zu gleich die Erklärung der Welt, das heißt, die wahre Philosophie. Noch zwei Schritte, sagte Herter, dann war er dort, wo er hinwolle. Erster Schritt: Richard Wagner. Der große Musiker, Komponist berauschender Opern, war nicht nur sein Leben lang ein Anhänger Schopenhauers, sondern auch ein Antisemit neuen Typs. Die Juden sollten nicht nur bekämpft und ihre Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt werden, weil sie unverhältnismäßig viel Macht und Einfluß auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens hätten, wie traditionelle Antisemiten seit Jahr und Tag behaupteten und behaupten, was dann zu gelegentlichen Pogromen hier und da führte – nein, er verkündete in seinen Schriften als erster, daß sie nicht existieren dürften, daß sie ausnahmslos vom Erdboden verschwinden müßten. Mit ihm wurde der metaphysische Ausrottungsantisemitismus geboren. Auch durch die Taufe konnten sie sich von diesem Fluch nicht befreien, was Christen und Moslems ihnen noch zugestanden. Vergeblich versuchte er seinen ihm geneigten Bewunderer, den labilen König von Bayern, Ludwig II., vor seinen blutrünstigen Karren zu spannen, doch dem war Wagners rabiater Antisemitismus zu ordinär – so labil war er also auch wieder nicht. Mit einem Klicken schaltete sich das Diktaphon ab.
17
»Um halb neun geht unser Flugzeug«, sagte Maria, während sie die winzige Kassette für ihn umdrehte.
»Zeit genug.«
»Du mußt noch packen.«
»Mach ich schon noch«, sagte er ungeduldig. »Notfalls verpassen wir die Maschine eben.« »Du weißt doch, daß Olga und Marnix uns abholen? Er war begeistert, so lange aufbleiben zu dürfen.«
»Wir können sie immer noch anrufen und absagen.« Er schaltete das Gerät wieder ein, legte kurz einen Finger an die Lippen und sagte: »Gut. Zweiter Schritt: Nietzsche. Jetzt wird es kompliziert. Auch er war als junger Mann ein Anhänger Schopenhauers und außerdem ein bewundernder Freund und häufiger Gast Wagners. Über beide schrieb er begeisterte Aufsätze, doch je deutlicher sich seine eigenen Ideen entwickelten, um so mehr ging er auf Distanz zu ihnen. Zu Beginn seiner Karriere stand Schopenhauers abstrakter Wille an der Wiege der dionysischen Urkraft in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik , die er 1871 als Siebenundzwanzigjähriger Wagner gewidmet hatte. Ich weiß das alles ganz genau, ich habe das Buch schon gelesen, als ich neunzehn war, gleich nach dem Krieg; ich glaube, ich habe mich damals ein wenig mit ihm identifiziert. Am Ende der kurzen Periode, in der er geistig gesund war, siebzehn Jahre später, wurde Schopenhauers musikalischer Wille in seinem eigenen Willen zur Macht noch konkreter. – Hier auch die beiden Zitate«,
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