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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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andere Zahl vernichtet. In der Mathematik nullt die Null – die Null ist der Hitler unter den Zahlen. Und ist dies vielleicht zugleich die Erklärung für Heideggers metaphysisches Paktieren mit der Null unter den Menschen, die er in einem Anfall von Sinnestäuschung ausgerechnet für die Personifikation des unendlichen Seins gehalten hatte? Denn schließlich hatte der Seinsphilosoph mit der Schlafmütze, der Bewunderer von ›Urgestein, Granit, hartem Willen‹, wie man sie auf dem Obersalzberg sehen kann, eine SA-Uniform in seinem Kleiderschrank hängen. Und dann war da noch Sartre, der in derselben Tradition steht, bei dem das Ganze jedoch wieder kierkegaardianisch auf den Füßen landet, wenn er schreibt, der Antisemit sei ein Mensch, der ein unbeweglicher, harter Fels sein wolle, ein siedender Strom, ein vernichtender Blitz – alles, nur kein Mensch. Und im Hintergrund von alldem schimmern die ekstatischen Gestalten von Meister Eckhart und den seinen, deren mystische Besessenheit von hier aus betrachtet plötzlich dämonische Züge bekommt, sie mit ihrer ›dunklen Nacht der Seele‹ und der Nichtswerdung … was dann später im Schwarzen Loch der Reichsparteitage in Nürnberg auf monströse Weise in szeniert wurde, nach Sonnenuntergang, umgeben von Säulen aus Licht, die in den Sternenhimmel ragten, mit Hitler als paradoxer Singularität im Mittelpunkt von Tausenden von Uniformierten, als einziger barhäuptig …« Er erschauderte. »Ich erschaudere, aber dieser Schauder deutet haargenau in die richtige Richtung: die des Schrecklichen, des Grauenerregenden, des mysterium tremendum ac fascinans.«
    »Des was?« fragte Maria mit schräggelegtem Kopf.
    »He, belauschst du mich etwa?«
    »Das ist unvermeidlich, aber mach dir keine Sorgen. Für dich öffnen sich vermutlich Welten, wenn du diese Dinge sagst, doch ich begreife nicht mal die Hälfte davon. Soll ich rausgehen?« »Nein, natürlich nicht, es ist sogar gut, wenn jemand mithört.«
    »Ich dachte, es handele sich um ein Geheimnis.« »Über dieses Geheimnis werde ich nichts sagen, nur über die Erklärung des Geheimnisses, das Hitler war.«
    Das mysterium tremendum ac fascinans , erläuterte er, sei ein Ausdruck, der vor gut achtzig Jahren von Rudolf Otto in seinem Buch Das Heilige geprägt wurde. Vor ein paar Wochen habe er es wiedergelesen, offenbar aus einer Art Vorgefühl heraus. Nietzsche habe als junger Mann Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik geschrieben, worüber er gestern erst gesprochen hatte. In diesem Buch habe er der »edlen Einfalt und stillen Größe« in Winckelmanns apollinischem, friedlichem, harmonischem Bild der griechischen Kultur dessen dionysisches, ekstatisches, irrationales, angsteinjagendes Gegenteil hinzuge fügt. Man könne sagen, Rudolf Otto habe in dieser Tradition auf den Kern jeder Religion hingewiesen: das schaudererregende »Ganz Andere«, das absolut Fremde, die Negation all dessen, was existiert und gedacht werden kann, das mystische Nichts, den Stupor, das »völlig auf den Mund geschlagen sein«, das sowohl anzieht als auch abstößt. Das höre sich anders an als der barmherzige »liebe Gott« der Christen. Der sei ein engbrüstiger Nachkomme der wirklichen, wilden Himmelskerle und Himmelsweiber – der im übrigen aber auch nicht davor zurückschreckte, seinen eigenen Sohn zu opfern, eine Tat, die er früher einmal Abraham verboten hatte. Nein, einzig und allein Hitler war die Epiphanie dieses lugubren Wesens. »Ich gebe mir Mühe«, sagte Maria.
    Inzwischen, fuhr er fort, hätten unzählige Fachleute sich vergeblich den Kopf über die Frage zerbrochen, wann Adolf sich in Hitler verwandelte. Zunächst sei er ein unschuldiger Säugling gewesen, dann ein süßes Kind, dann ein Heranwachsender, schließlich ein wißbegieriger Jüngling – wo, wann, wie und wodurch war er zum absoluten Schrecken geworden? Eine befriedigende Antwort auf diese Frage habe noch keiner geben können. Warum nicht? Vielleicht weil all die Psychologen keine Philosophen waren, und vor allem: keine Theologen? Und weil die monotheistischen Theologen ihrerseits einen Bogen um Hitler machten und sich in der Frage der Theodizee verstrickten: Wie konnte der eine und wahre Gott Auschwitz zulassen? Nun, er wisse es seit heute. Keiner von ihnen habe es gewagt, bis zum Äußersten zu gehen, so wie Hitler selbst. Die Angst vor dem Ganz Anderen habe auch sie gelähmt. Durch Hitler seien auch sie völlig auf den Mund geschlagen – einige

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