Siegfried
kurz das Diktaphon, es liegt dort bei meinen Augentropfen. Es gibt jemanden, der niemand ist, und meine Gedanken über diesen Niemand muß ich jetzt noch kurz ordnen.« »Schlaf lieber ein Viertelstündchen.« »Nein, dann vergesse ich es vielleicht.«
Maria schaltete das Gerät ein und gab es ihm. Er dachte kurz nach, führte es an seinen Mund und sagte dann mit Diktiergeschwindigkeit: »Hitlers Chef des Wehrmachtführungsamtes, Generaloberst Jodl, der täglich mehrere Stunden mit ihm zusammen war, auch er wurde übrigens aufgeknüpft, hat einmal gesagt, der Führer sei für ihn immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Ich habe diese Siegel heute zerbrochen. Es stellt sich heraus, daß dieses Buch ein Blindband mit lauter leeren Seiten ist. Er war der wandelnde Abgrund. Das letzte Wort über Hitler lautet nichts . Die unzähligen Studien über seine Person verfehlen ihr Thema, weil sie sich mit etwas beschäftigen und nicht mit nichts. Es war nicht so, daß er niemanden an sich heranließ, wie alle sagen, die ihn persönlich erlebt haben, sondern da war nichts, an das sie herangelassen werden konnten. Nein, vielleicht sollte ich es andersherum ausdrücken. Vielleicht muß man es so verstehen, daß das Vakuum, das er war, sich mit anderen Menschen vollsog, die dadurch ebenfalls vernichtet wurden. Dort irgendwo findet sich dann vielleicht auch die Erklärung für die unmenschlichen Taten seiner moralisch entmenschlichten Anhänger. Das Ganze erinnert mich übrigens an ein Schwarzes Loch. Das ist ein monströses astronomisches Objekt, eine pathologische Deformation von Raum und Zeit, die durch den katastrophalen Kollaps eines schweren Sterns entstanden ist, ein Maul, das alles verschlingt, was in seine Nähe kommt, Materie, Strahlung, alles, und aus dem nichts entweichen kann, sogar Licht bleibt in seinem Schwerkraftfeld gefangen, der Rest der Welt ist von allen Informationen abgeschnitten – zwar glüht es, aber aus dieser amorphen Wärme lassen sich keine Schlüsse ziehen. Im Zentrum des Schwarzen Lochs befindet sich eine sogenannte Singularität. Das ist eine paradoxe Entität von unendlich großer Dichte und unendlich hoher Temperatur und mit einem Volumen gleich Null. Hitler als eine Singularität in Menschengestalt – umgeben vom Schwarzen Loch seiner Anhängerschaft! Ich glaube, auf die Idee ist bisher noch keiner gekommen. Gut. Ich werde dieses alles verschlingende Nichts diesmal nicht psychologisch deuten, wie es bisher vergeblich versucht wurde, sondern philosophisch, denn es ist in erster Linie ein logisches Problem: eine Reihe von Prädikaten ohne Subjekt. Damit ist er das exakte Gegenteil des Gottes, wie er im fünften Jahrhundert in der negativen Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita gedacht wurde: Dort ist Gott ein Subjekt ohne Prädikate, denn er ist zu groß, als daß man auch nur irgend etwas über ihn sagen könnte. Man könnte also behaupten, daß Hitler im Rahmen der negativen Theologie der Teufel ist – nicht aber in der offiziellen, positiven Theologie von Augustinus und Thomas. Nun gut, lassen wir das.«
Er trank einen Schluck von dem Chablis, den Maria neben ihn gestellt hatte, und sprach in den Apparat:
»Aufgepaßt, dieser Exkurs wird noch lehrreicher. Im Kielsog Hegels, aber in Opposition zu ihm, hat Kierkegaard gesagt, das Nichts gebäre die Angst. Über Nero schrieb er, daß dieser sich selbst ein Rätsel war und sein Wesen war die Angst: Darum auch habe er für alle ein Rätsel sein und sich an ihrer Angst erfreuen wollen. Später kehrte Heidegger Kierkegaards These um und sagte, in der Angst offenbare sich das Nichts – und ›im Sein des Seienden geschehe das Nichten des Nichts‹. Dafür erntete er natürlich Hohngelächter von Seiten der logischen Positivisten, besonders des Wiener Kreises hier, allen voran Carnap – aber liegt nicht auch die Erklärung Hitlers in der Richtung dieser negativistischen Konzeption? Nämlich als Personifikation dieses angsterregenden, nichtenden Nichts, als Vernichter von allem und jedem, nicht nur seiner Feinde, auch seiner Freunde, nicht nur der Juden, der Zigeuner, der Polen, der Russen, der Geisteskranken und was weiß ich wem sonst noch alles, sondern auch der Deutschen, seiner Frau, seines Hundes und am Ende seiner selbst? Vielleicht hätte Carnap auch in diesem Fall erst kurz an seine Lieblingswissenschaft denken sollen: die Mathematik. Dort ist die paradoxe Zahl Null wohlgemerkt eine natürliche Zahl, die durch Multiplikation jede
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