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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Während er weiterging, dachte er an Albert Camus' Roman Die Pest, in dem die Pest den Schwarzen Tod des Nationalsozialismus symbolisierte. Die Epidemie im siebzehnten Jahrhundert kostete dreißigtausend Wiener das Leben, doch zweihunderttausend von ihnen starben an der sechsjährigen Hitlerpest und ihren Folgen. Wo war der Fleming, der gegen diese ansteckende Krankheit ein Antibiotikum entwickelte? Und wo das Denkmal für die alliierten Ärzte von 1945? »Germanski nix Kultur«, murmelte er.
    Hin und wieder erkannt von Leuten, die ihn im Fernsehen gesehen hatten, ging er durch eine Reihe von engen Gassen zurück zum Hotel – der Wagen der Botschaft würde in zehn Minuten kommen, um sie zum Lunch abzuholen. Während er von der Rezeption aus Maria anrief und ihr sagte, er erwarte sie unten in der Halle, sah er einen berühmten Dirigenten aus dem Aufzug kommen, Constant Ernst, der nur noch selten in den Niederlanden auftrat und den er nur vom Sehen kannte. Der Musiker nahm in einem Sessel Platz, legte eine Zeitung auf seine Knie und begann auf echt holländische Art, eine Zigarette zu drehen, ohne dar auf zu achten, was er tat. Kurz danach begrüßten sie einander mit einem freundlichen Kopfnicken. Gleichzeitig mit Maria trat der schnurrbärtige Chauffeur in die Hotelhalle und sah sich suchend um. Als auch Ernst winkte und aufstand, war alles klar. Lächelnd gingen Herter und er aufeinander zu und reichten sich die Hand.
    »Vorstellen müssen wir uns wohl nicht«, sagte Ernst.
    »Wir sind die beiden letzten Niederländer, die sich noch nicht persönlich kannten.«
    Ernst hatte ein offenes Lächeln und zwei neugierige Augen hinter einem stählernen Brillengestell. Er war zehn Jahre jünger als Herter, schlank und mit einer überlegenen Nachlässigkeit gekleidet. Trotz seines Schnurrbarts und seiner wirren grauen Haare wirkte er jungenhaft. Im Wagen setzte er sich neben den Chauffeur und berichtete, daß er zur Zeit mit den Wiener Philharmonikern Tristan und Isolde probte.
    »Was für ein Zufall«, sagte Herter und sah kurz zu Maria, wobei er leicht den Kopf schüttelte. »Ich halte heute abend einen Vortrag.« Ernst erwähnte Die Erfindung der Liebe nicht, und es war natürlich undenkbar, daß er selbst jemals jemanden fragte, ob er sein Buch gelesen hatte, und Maria durfte das auch nicht.
    Die Residenz lag in einem vornehmen Viertel am Belvedere und grenzte an den Botanischen Garten. Der Botschafter und seine Gattin, die Schimmelpennincks, empfingen sie stehend in einem vornehm möblierten Wohnzimmer, wie ein lebendes Prunkgemälde: er ein untersetzter Herr in dunkelblauem Anzug mit feinen Nadelstreifen, sie eine einfach gekleidete Dame mit jener Art von Lächeln, an dem Generationen von Müttern und Töchtern gefeilt haben. Zu ihren Füßen lag ein formloses Riesenvieh von Hund, das alle Rassengesetze übertreten hatte. Als sie sagte, Die Erfindung der Liebe sei eines der schönsten Bücher, das sie je gelesen habe, hatte Herter den Eindruck, daß sie es ehrlich meinte.
    »Aber wir müssen Ihnen etwas Fürchterliches beichten, Herr Herter«, sagte sie und deutete auf den Hund. »Kees hat Ihr Buch verbuddelt. Hier im Garten.«
    Herter bückte sich und streichelte Kees über den Kopf.
    »Ich hab gleich gesehen, daß du ein orthodoxer Jude bist.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Fromme Juden werfen alte religiöse Bücher nie weg, sie verkaufen sie auch nicht, sondern sie begraben sie. Die wissen, was sich gehört.« Ernst entschuldigte sich dafür, daß er aufgrund seines hektischen Lebens noch nicht die Zeit gefunden habe, Die Erfindung der Liebe zu lesen, woraufhin Schimmelpenninck ihm beisprang, indem er erwähnte, sie hätten bereits Karten für die Premiere kommende Woche. Wagner! Habe er, fragte der Botschafter mit einem ironischen Blinzeln in den Augen, seine Dirigentenkarriere nicht mit der modernen Wiener Schule begonnen, mit Schönberg, Webern und Alban Berg? Ernst lachte und sagte, die dirigiere er immer noch, aber möglicherweise habe die Moderne ja mit Wagner angefangen.
    »Trink nicht zuviel«, flüsterte Maria, als Herter ein Glas Weißwein von dem Tablett nahm, das ihm eine asiatische Hausangestellte hinhielt.
    »Wer lange trinkt, lebt lange.«
    Schimmelpenninck hatte Herter am Abend im Fernsehen gesehen und sagte, er sei fasziniert von dem, was er über Hitler gesagt habe.
    »Was haben Sie denn gesagt?« wollte Ernst wissen.
    »Herr Herter geht Hitler an den Kragen«, sagte Schimmelpenninck mit unbewegtem

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