Siegfried
Gesicht. »Dem Führer blüht was.«
Als er erzählte, worum es sich handelte, war das für die Frau des Botschafters und Maria das Zeichen, sich die Meister des siebzehnten Jahrhunderts anzusehen, Dauerleihgaben des Rijksmuseums. Auf Frauen übt Hitler keinen Reiz mehr aus, dachte Herter; das war früher einmal anders.
Nachdem der Botschafter zu Ende gesprochen hatte, sagte Herter, Hitler sei gerade wegen seiner Rätselhaftigkeit zur dominierenden Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Stalin und Mao seien auch Massenmörder gewesen, doch die waren nicht rätselhaft; darum habe man über sie auch sehr viel weniger geschrieben. In der Weltgeschichte hat es zahllose Gestalten wie sie gegeben, und die gebe es immer noch, und es würde sie auch immer geben, doch so wie Hitler sei nur Hitler gewesen. Möglicherweise sei er der rätselhafteste Mensch aller Zeiten. Darum habe auch der Nationalsozialismus in Wirklichkeit wenige oder überhaupt keine Gemeinsamkeiten mit dem vergleichsweise recht unbedeutenden Faschismus Mussolinis oder Francos. Es wäre doch schön, wenn am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts das letzte Wort über ihn gesprochen werden könnte, eine Art Endlösung der Hitlerfrage.
»Übrigens«, sagte er und sah Ernst an, »und nehmen Sie das nicht persönlich, ein Dirigent ist das Musterbeispiel eines Diktators.«
»Sagen Sie ruhig eines Tyrannen«, erwiderte Ernst gutgelaunt, während er sich eine Zigarette drehte. »Wenn er das nicht ist, gibt es nur Chaos.«
»Das Wort ›Dirigent‹«, fuhr Herter fort, »ist nebenbei gesagt praktisch synonym mit dem Wort ›Führer‹. Er drillt das Orchester, fordert bedingungslosen Gehorsam, und es ist charakteristisch für ihn, daß er mit dem Rücken zum Publikum steht. Er erscheint als letzter im Saal, zeigt kurz sein Gesicht, nimmt den Applaus entgegen, dreht dem Publikum den Rücken zu und gibt dann ununterbrochen Befehle. Am Ende zeigt er wieder kurz sein Gesicht, läßt sich bejubeln und verschwindet als erster.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Ernst und leckte am Zigarettenpapier.
»Aber Hitler hat sein Gesicht nie gezeigt. Er war ein Dirigent, der rückwärts ans Pult trat und sich auch am Ende des Konzerts nicht umgedreht hat. Was ich möchte, ist, eine Art fiktiven Spiegel aufhängen, in dem wir sein Gesicht trotzdem zu sehen bekommen. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es anfangen soll.«
»Fürchten Sie selbst nie, daß aus einer Idee nichts wird?« fragte Schimmelpenninck vorsichtig und zupfte dabei an seinem Ohrläppchen.
»Das passiert häufig, aber ich fürchte mich nicht davor. Dann kommt mir bestimmt eine andere Idee.«
»Sie verfügen über ein beneidenswertes Selbstvertrauen.«
»Wenn man das nicht hat, wird es nie etwas mit der Kunst.«
Daraufhin erzählte Ernst, daß der fiktive Spiegel ihn an die vielleicht merkwürdigste Erfahrung seines Lebens erinnerte. Vor ungefähr fünfzehn Jahren habe er in der Felsenreitschule in Salzburg eine Mozart-Symphonie geprobt. Die Musiker hatten nicht ihren besten Tag, und ständig mußte er unterbrechen, um gewisse Passagen zu wiederholen. Doch plötzlich war es, als sei kollektiv der Geist in sie gefahren, plötzlich spielten sie so wunderbar, daß er seinen Ohren kaum glauben konnte, es war, als leitete nicht er sie, sondern sie ihn. Dann habe er an ihren Augen gesehen, daß irgend etwas hinter ihm war, er habe sich umgedreht – und was habe er gesehen: Auf der Schwelle zu dem leeren Saal stand Herbert von Karajan und hörte zu.
»Eine solche Geschichte«, nickte Herter, »und mein Tag ist gerettet.«
»Und wer steht bei Ihnen auf der Schwelle, Herr Herter?« fragte Schimmelpenninck mit schiefgelegtem Kopf.
Überrascht sah Herter ihn an.
»Eine gute Frage!« Wen sollte er nennen? Goethe? Dostojewski? Er hatte das undeutliche Gefühl, daß es noch einen Dritten gab. »Das kann ich so schnell nicht sagen. Wäre ich ein Epigone, fiele die Antwort leicht.«
»Ich denke«, sagte Ernst, »Sie selbst sind derjenige, der bei manchen anderen Schriftstellern auf der Schwelle steht.«
»Dadurch nehme ich ihnen folglich eine ganze Menge Arbeit ab.«
Sie hatten sich im Stehen unterhalten und gingen jetzt ins Eßzimmer. Herter saß zur Rechten von Frau Schimmelpenninck, Maria zur Rechten des Botschafters. Geschirr und Silberbesteck waren mit dem niederländischen Wappen verziert. »Welch ein Zufall«, sagte Frau Schimmelpenninck, während ihr Essen serviert wurde. »Herr Herter
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