Sieh dich um: Thriller (German Edition)
Molly und ihn bereits das dritte Heim in den vergangenen fünf Monaten dar, und er rechnete nicht damit, dass sie noch viel länger dort wohnen würden.
Abgesehen davon gab es in gewisser Weise keinen großen Unterschied zwischen einer Pflegemutter und einer Aushilfslehrerin. Es war etwas, das auf dem Papier gut aussah, nicht jedoch im wahren Leben. Wurde man erst mit der harten Realität konfrontiert, zwei Kinder, die einem – zumindest biologisch – nicht gehörten, erziehen und Geld für sie ausgeben zu müssen, verlor das romantische Konzept dramatisch an Reiz, auch unter Berücksichtigung der großzügigen staatlichen und bundesstaatlichen Subventionen, die damit einhergingen.
Es mochte zynisch sein, aber Jack wusste, dass es dicht unter der Oberfläche verdammt viel Ähnlichkeit mit einer jener herzzerreißenden Werbesendungen um drei Uhr morgens hatte, wo man sich pflichtschuldig bereit erklärte, für den geradezu lächerlichen Preis einer Tasse Kaffee am Tag ein Kind zu unterstützen, während man sich geistesabwesend die Chipskrümel vom fleckigen T-Shirt bürstete – und später erkannte, dass man seine Tasse Kaffee deutlich mehr schätzte als irgendein fremdes Kind, durch dessen Adern nicht das eigene Blut floss. Zumindest kam es Jack manchmal so vor. Er war nur froh, dass man ihn und Molly nicht getrennt hatte. Er wusste nicht, was er getan hätte, wäre es dazu gekommen. Wenigstens eine gute Seite des Fürsorgesystems.
Inzwischen war es beinah achtzehn Uhr und kalt genug draußen, um die Skimaske zu einer nicht allzu auffälligen Notwendigkeit zu machen, was ihm nicht ungelegen kam. Schließlich war ihm das FBI mittlerweile bestimmt dicht auf den Fersen, und er wollte nicht von irgendeinem nichtsnutzigen Gutmenschen erkannt werden, der sich eine Belohnung verdienen wollte. Zum Glück bot die Skimaske eine perfekte Tarnung.
Ein eisiger Wind heulte durch die Straße, durchdrang die Maske und ging ihm durch Mark und Bein wie tausend winzige Rasierklingen. Er hielt den Kopf gesenkt, während ein Hurrikan aus losem Abfall an ihm vorbeisegelte: Verpackungsmüll, Hotdog-Papier, eine Beilage aus der Sonntagszeitung, Staub und Betonpartikel, die in den Augen brannten und sie zum Tränen brachten. Jack zitterte angesichts der erbarmungslosen Kälte heftig und kämpfte nach Kräften gegen die wilden Böen an, doch es war eine aussichtslose Schlacht. Wie es aussah, hatte der vermeintliche Frühling in New York City seinen typischen Verlauf genommen, und die willkommene, leider allzu kurze Wärmeperiode war zu Ende. Nun herrschte wieder raues Aprilwetter, das fest entschlossen zu sein schien, den gesamten Nordosten der Vereinigten Staaten zurückzuerobern und mit eisigem Griff zu umklammern.
Jacks erster Stopp fünfzehn Minuten später war Larson’s Buchladen in der Monterey Street. Mit einem erleichterten Seufzen betrat er das Geschäft und stampfte in dem Bemühen mit den Füßen, das Blut darin wieder zum Fließen zu bringen. Er war unsagbar froh, endlich aus der bitteren Kälte zu gelangen.
Nach und nach kehrte das Gefühl in seine kribbelnden Finger und Zehen zurück. Er zog die Skimaske aus und genoss die Wärme auf den durchgefrorenen Wangen, auch wenn dazu der vermischte Geruch von staubigen alten und neuen, in Plastik eingeschweißten Büchern gehörte, in seiner Nase kitzelte und ihn zum Niesen verleitete.
Larson’s war einer jener altmodischen, unabhängigen Buchläden in Familienbesitz, die man dieser Tage nicht mehr allzu oft sah. Aber das Gute daran, in einer Stadt wie New York zu leben, war, dass sich selbst in kleineren Läden zu jeder Tageszeit wenigstens eine Handvoll Kunden aufhielten, was die Aufmerksamkeit auf viele Gesichter verteilte und es einem ermöglichte, in der Menge unterzutauchen. Larson’s bildete keine Ausnahme. Zusätzlich zu der Frau hinter der Ladentheke – einer Buchhändlerin Mitte sechzig mit riesigen Großmutterbrüsten und einer grellen Harlekin-Brille an einer Goldkette um den unglaublich dicken Hals – trieben sich drei Gruppen von Kundschaft im Laden herum. Ein junges Hippie-Pärchen, das selbst aus fünf Metern Entfernung leicht nach Patschuli roch, nickte einander wissend zu, während die beiden ein New-Age-Kochbuch in Augenschein nahmen, das bestimmt irgendwo im Abschnitt mit den Vorspeisen die Zubereitung von Brownies mit Marihuana beschrieb. Bei den Zeitschriften stand ein Travis-Bickle-Typ in einer abgewetzten Tarnjacke. Der Mann hätte der
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