Sieh dich um: Thriller (German Edition)
bohrenden Blicke anderer Leute zu spüren, die ihn eines Verbrechens anklagten, das er noch gar nicht begangen hatte. Doch niemand sagte etwas zu ihm, niemand sprach ihn an, und nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass ihm wohl nur seine überbordende Fantasie Streiche spielte.
Jack stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als die Türen der U-Bahn-Kabine zehn Minuten später endlich auseinanderglitten. So schnell er konnte, stieg er aus und verlor sich in der Menge, die nach oben auf die geschäftige Straße strömte, wo er in der Anonymität der riesigen Stadt Trost und Deckung suchte.
Als er schließlich in der 18th Street im fünften Stock des Genossenschaftsgebäudes angekommen war und an die Tür klopfte – wobei er sich natürlich vergewissert hatte, dass ihn auf dem Weg nach oben niemand gesehen hatte –, begann sich sein Puls zu normalisieren, und der Nebel in seinem Gehirn verflog ein wenig. Überbordende Fantasie hin, überbordende Fantasie her, er war ziemlich sicher, dass ihn niemand erkannt hatte. Bis jetzt zumindest.
Eine Kette rasselte, und die Tür zur Wohnung wurde einen Spaltbreit geöffnet. Jack hob den Kopf und starrte einmal mehr direkt in seine Augen – nur diesmal viele Jahre älter. Wieder der Zerrspiegeleffekt, allerdings in umgekehrter Richtung.
Jack zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, ruhig zu klingen, trotz des Adrenalins in seinen Adern, das es ihm beinah unmöglich machte, klar zu denken oder zu reden. Erstaunlicherweise klang seine Stimme trotzdem wesentlich selbstbewusster, als er es für möglich gehalten hätte. »Hi, Dad«, sagte er. »Lange nicht gesehen.«
16
Dana klappte ihr Mobiltelefon zu, nachdem Krugman die Verbindung unterbrochen hatte, und spürte, wie sich ihre Stimmung genauso verfinsterte wie der unheilvolle Himmel über ihnen. Vom eben noch strahlenden Sonnenschein war nichts mehr zu sehen, dafür rollten Gewitterwolken heran. Das übliche schizophrene New Yorker Wetter.
Brown, der einen Meter neben Dana auf den Stufen zur NYPD-Zentrale stand, warf einen Blick auf ihre zerknirschte Miene und schüttelte den Kopf. »Schlechte Neuigkeiten, wie?«, fragte er.
Dana nickte. »Schlecht ist gar kein Ausdruck.«
»Wie schlecht genau?«
»Sagen wir einfach, wir werden ab sofort an der kurzen Leine gehalten. Einer sehr kurzen Leine.«
»Wie kurz?«
Dana hielt Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter auseinander. »So kurz. Noch ein weiterer Toter, und wir sind Geschichte. Er entzieht uns den Fall.«
Brown verzog das Gesicht. »Autsch. Das ist wirklich verdammt kurz.«
Dana lachte humorlos. »Kann man wohl sagen. Aber egal. Los, komm mit. Ich bin am Verhungern. Holen wir uns etwas zu essen.«
Sie stiegen die Betonstufen hinunter, und Dana führte ihren Partner zu dem Hotdog-Stand dreißig Meter weiter auf dem Gehweg. Nur die erlesensten kulinarischen Genüsse für sie beide. Aber sie mussten schon zufrieden sein, dass sie überhaupt eine Gelegenheit zum Essen bekamen. Sie hatten Glück – die Opfer des Schachbrett-Mörders hätten wahrscheinlich liebend gerne mit ihnen getauscht. Für sie wäre es eine Fünf-Sterne-Mahlzeit gewesen, doch sie würden nie wieder etwas essen. Sie waren tot, ein für alle Mal, und würden nicht mehr lebendig werden – und alles nur, weil Dana und Brown es verabsäumt hatten, ihre Arbeit ordentlich zu erledigen und die Opfer zu schützen.
Dana bestellte sich einen Dreißig-Zentimeter-Hotdog mit Senf und Zwiebeln, Brown nahm seinen mit Ketchup und Relish. Während der alte Grieche die Hotdogs zubereitete und die Muskeln seiner kräftigen Unterarme unter der Haut spielten, schaute er zu Dana auf und sagte: »He, was seh ich denn da? Warum macht eine so hübsche Lady an einem so schönen Tag ein so unglückliches Gesicht?« Er sprach mit griechischem Akzent und wedelte mit einer Hand durch die Luft. »Es ist ein so wunderschöner Tag – Sie sollten ihn genießen, Lady! Das Wetter ausnutzen. Was kann man mehr verlangen? Gott hat uns diesen Tag geschenkt, und wir sollten uns daran erfreuen und erkennen, was für ein herrliches Geschenk das ist!«
Dana nahm den Hotdog entgegen, den er ihr hinhielt, und runzelte angesichts der optimistischen Einschätzung des sich rapide verschlechternden Wetters die Stirn. Sie hob den Blick zum schwarzen Himmel. »Für mich sieht das nach keinem wunderschönen Tag aus«, bemerkte sie. »Abgesehen davon, wie kommen Sie darauf, dass ich unglücklich wäre?«
Der alte Mann
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