Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
anderen kühl war. Das lag an den unterirdischen Quellen, die kalte Strömungen in das von der Sonne erwärmte Meer leiteten.
So wie die Leute auf der Piazza schwatzten, traten sie am La Botte Wasser und tauschten Höflichkeiten aus. Sie kamen nicht zum Entspannen her, sondern um zu klatschen und dabei braun zu werden. Am La Botte erfuhren sie, was im Ort passierte. Einmal kam Danielas Nachbar zum Morgenschwimmen und hörte, dass sein Bruder, der direkt über ihm wohnte, in der Nacht ins Krankenhaus gebracht worden war. Noch in der Badehose raste Umberto in die Klinik, und zwar in einem derartigen Tempo, dass es fast schon an ein Wunder grenzte, dass er nicht ebenfalls eingeliefert wurde.
Eben weil La Botte wie die Piazza war, hatte sich Danielas Vater stets geweigert, dort schwimmen zu gehen. Das hatte ihm die Kritik seiner Freunde zugezogen, die das als Affront verstanden. Jedes Jahr wollte die Frau, die die tabaccheria führte, von Franco wissen, warum er so antisociale sei. Und jedes Jahr erhielt sie die gleiche Antwort: »Warum sollte ich meine Ferien mit Leuten verbringen, die ich sowieso das ganze Jahr über sehe? Und warum sollte ich an einen Strand gehen, wo man mir sagt, dass mein Bauch dicker und meine Falten tiefer geworden sind? Ich will mich erholen und nicht hören, wie hässlich ich bin.« Beinahe jede Anekdote, die mir Daniela über ihren Vater erzählte, weckte in mir den Wunsch, ihn früher kennengelernt zu haben. Er klang so herrlich respektlos, ein anti-conformista im traditionsbewussten Süden.
Franco fuhr jedes Jahr mit seiner Familie nach Sizilien, einerseits, um La Botte zu entgehen, und andererseits, um Valerias Sommerhaus auf dem Hügel zu genießen. Er hatte einfach keine Lust, sich neben seinen Schülern, seinem Anwalt, seinem Arzt, seinem Zahnarzt, dem Mann, der sein Haus gestrichen, und der Frau, die seinen Hund vergiftet hatte, zu sonnen. Er konnte dem Alltag einfach nicht entfliehen, wenn er von den üblichen Verdächtigen umgeben war. Für manche war La Botte das Paradies, für andere wie Daniela, die eher ihrem Vater glich, war es der letzte Ort, wo sie sich entspannen wollte. Während meines ersten Sommers in Andrano nahm sie mich beinahe zu jedem anderen Strand an der Küste mit. Hauptsächlich, um ungestört mit mir zusammen sein zu können und um zu verhindern, dass alle über ihren australischen Freund klatschten. Aber jetzt, wo ich meine eigenen Freunde hatte, für die La Botte Pflicht war, schleifte ich Daniela jeden Morgen dorthin, zumindest so lange, bis sich die Neuigkeit, dass wir wieder da waren, herumgesprochen hatte. Oder bis mir jemand sagte, dass mein Bauch dicker sei als letztes Jahr.
Nach einer Runde Schwimmen setzten wir uns zu unseren Freunden und verbrachten den Vormittag damit, den Abend zu planen. Solange wir uns ans Essen und die Religion hielten, mussten wir nie lange überlegen, wie wir uns im Sommer im Salento amüsieren konnten. Wir machten erneut die sagre -oder Festival-Tour und aßen so viel, dass wir den Meeresspiegel beim nächsten Schwimmen locker um mehrere Zentimeter ansteigen ließen. Um ihr für ein weiteres gutes Jahr zu danken, nahmen wir auch an der Nacht der Nächte von Andrano teil, der Festa della Madonna delle Grazie . Wieder einmal erinnerte die Piazza an Las Vegas, und wieder einmal flehte Daniela einen Hagelsturm herbei, der nicht kam.
Am Abend des 10. August trafen wir uns am La Botte, um ein Feuerwerk der natürlichen Art zu erleben. Laut einer Heiligenlegende stehen die dann fallenden Sternschnuppen für die Tränen des heiligen Laurenz, ein katholischer Diakon, der im Jahr 258 den Märtyrertod gestorben war. Laut Wissenschaftlern, die in Andrano allerdings nicht sehr beliebt sind, sind die »Tränen« in Wahrheit Teile des Swift-Tuttle-Kometen, der bei einem Tempo von 230 000 Stundenkilometern mit der Erdatmosphäre kollidiert. Egal, welche Erklärung man bevorzugt – La Notte di San Lorenzo geht einem im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nerven: Zwei Jahre hintereinander habe ich diese Nacht damit verbracht, mir den Hals zu verrenken und den Himmel nach Sternschnuppen abzusuchen. Doch das Einzige, was ich dort habe aufblitzen sehen, ist der letzte Flieger von Rom nach Athen.
Ein paar Abende später kehrten wir an den La Botte zurück, um einer ganz besonderen religiösen Prozession beizuwohnen. Eine Fischerbootflotte fuhr langsam am Strand vorbei und lobpries den heiligen Andreas, Andranos Schutzheiligen. An Bord des ersten
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