Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
jemals hatte, ihre derben Bauernweisheiten zum Besten gibt.
Obwohl ich ein offizieller Einwohner von Andrano war, behandelte mich die Gruppe wie einen Gast. Ich bekam zwar nicht den Stadtschlüssel ausgehändigt, aber nur, weil das Tor sowieso unverschlossen war. Dafür bestand man darauf, dass ich die servola probierte, eine Cervelatwurst, die bei diesem Anlass traditionellerweise gegessen wird, füllte mir zudem bei jeder Gelegenheit das Glas und erklärte mir die Geschichte und Bedeutung des Abends. Die Leute schreckten vor nichts zurück, um mir ihren Ort schmackhaft zu machen. Diego wagte sich sogar in ein dunkles Feld vor, um ein Kraut für mich zu suchen, an dem ich wegen seiner Anissamen saugen sollte. Und genau das ist auch das Problem, wenn man Ehrengast ist: Es ist schön, sich feiern zu lassen, aber man muss tun, was von einem verlangt wird – auch an Dingen saugen, an denen man eigentlich nicht saugen will -, und dann noch so tun, als habe man es genossen. Wenn man sagt, dass man etwas nicht mag, riskiert man es, einen ganzen Ort zu enttäuschen.
Die Lichtung war so belebt wie eine beleuchtete Bühne, während die sie umgebende Landschaft vollkommen im Dunkeln lag und sich von den langen Sonnenstunden erholte. Ein berühmter Liedermacher der 1970er Jahre, Piero Focaccia, war für ein Konzert engagiert worden, und wir saßen alle auf einer Steinmauer und sangen den Refrain seines berühmtesten Hits » Stessa spiaggia, stesso mare « mit – jene Sommerhymne, die sogar ich auswendig konnte. Neben uns befand sich ein Steinhäuschen mit einer ein Meter zwanzig hohen Türöffnung, aus der ein ein Meter zwanzig großer Mann kam, der einen solch schweren Weinkrug hochhielt, dass die Adern an seinen Armen hervortraten. Er musste um die sechzig sein und hatte eine Kartoffelnase, die wie seine wettergegerbte Haut von der schweren Arbeit auf den Feldern ruiniert worden war. Er eilte auf Riccardo zu, der von der Mauer sprang und ihn im Dialekt begrüßte, dem hiesigen Slang, den ich erst noch zähmen musste. Ich verstand nicht genau, was sie sagten, nur, dass er Tonino hieß und der Wein für uns gedacht war.
Nachdem er seinen Platz auf dem Mäuerchen wieder eingenommen hatte, erklärte uns Riccardo, warum alle bis auf ihn für Toninos Wein zahlen mussten. Mit züchtigen Worten erzählte er die Geschichte einer Thailänderin, die für den Kardinal von Andrano gearbeitet hatte – der mit dem glasscherbenversehenen Zaun neben dem Schild »Wir erwarten dich«. Nachdem sie sich kennengelernt und verliebt hatten, ging die Frau eine Beziehung zu Tonino ein, was ihrem »heiligen« Arbeitgeber schwer missfiel, der sie daraufhin angeblich nach Thailand zurückverbannte. Mit seiner Mütze in der Hand wandte sich Tonino an den Polizeichef und flehte ihn an zu intervenieren. »Wenn ich etwas hasse, dann ist es Ungerechtigkeit«, sagte Riccardo. (Beim Kartenspielen schienen ihn solche Skrupel allerdings nicht zu plagen.) Trotz der Einwände des Kardinals ließ Riccardo seine gut vernetzten Muskeln spielen und half der Thailänderin, nach Italien zurückzukehren, wo sie später Tonino heiratete, der behauptet, seitdem schmecke sein Wein noch besser als sonst. Es war also schon das zweite Mal, dass Riccardo Cupido bei offiziellen Dokumenten unter die Arme griff.
Fast ganz Andrano hatte sich auf der Lichtung versammelt, um der Madonna die Ehre zu erweisen. Aber der zwergenhafte Tonino gab sich irdischeren Freuden hin. Er war ein lebender Heiliger, dessen Gesicht man sehen und berühren konnte, anstatt es sich im Gebet oder mithilfe von Bildern nur vorzustellen. Ein rundes Gesicht, das nach einem Glas seines selbst gemachten Weins rot wurde wie nach einem zu langen Aufenthalt an der Sonne. » Salute! «, prostete ihm Riccardo zu. Und schon floss der gute Tropfen durch die Kehlen.
Gegen Mitte August war ich ein Nachtmensch und so schwarz, als sei ich in das Töpfchen mit der schwarzen Farbe für die Fingerabdrücke gefallen. Ich hörte die Uhr öfter vier Uhr morgens schlagen als vier Uhr nachmittags, wenn ich mich an Daniela kuschelte und Siesta hielt. Ein Nachmittagsschläfchen war unumgänglich, um genug Kraft für den Abend zu schöpfen, außerdem verschlief man so den heißesten Teil des Tages. Wenn es zu heiß war, um im Schlafzimmer zu schlafen, legten wir unsere Matratzen in den Flur und öffneten Vorder- und Hintertür, um so einen kühlen Luftzug zu erzeugen. Das funktionierte so lange, bis ich von einer
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