Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
Tonios gesamtes Leben dirigiert hatten, dirigierten sie jetzt seinen Tod. Ein leerer Leichenwagen fuhr langsam hinter uns her, während sich die Prozession zwischen dicht gedrängten Häusern hindurchschlängelte. Stoische Gesichter sahen aus den Türen, so versteinert und ausdruckslos wie die lethargische Glocke, die durch den ganzen Ort schallte und die Einwohner darüber informierte, dass sich einer der Ihren auf dem Weg ins Grab befand.
Am Kopf des aus rund hundert Personen bestehenden Begräbniszugs wurde der Sarg von den Brüdern von Andranos Confraternità getragen, einer religiösen Gemeinschaft, der auch Tonio angehört hatte. Zwölf alte Männer, die in weiße Tuniken und blauen, am Hals von einem rosa Bändchen zusammengehaltene Schals gekleidet waren, hielten die Banner, Stäbe und Kruzifixe mit dem Emblem ihrer Bruderschaft hoch. Die Confraternità ist über hundert Jahre alt und wurde gegründet, um die hier ansässigen Christen zu religiösen Gesprächen und Gebeten zusammenzuführen. Während wir im Schneckentempo durch Andrano liefen, erzählte mir Daniela, wie ihre Großmutter versucht hatte, ihren Vater ebenfalls von einer Mitgliedschaft in der Bruderschaft zu überzeugen. Immerhin bot sie gegen eine geringe Jahresgebühr die Garantie eines Grabes auf dem Friedhof sowie ein ehrwürdiges Begräbnisgeleit durch die Mitbrüder. Aber ihr nonkonformistischer Vater hatte diese Vorstellung gehasst. Heutzutage stellt der municipio seinen Einwohnern die letzte Ruhestätte zur Verfügung, Gräber, die von den schwindenden Brüdern einer kraftlosen Bruderschaft zügig gefüllt werden.
Nach einem zehnminütigen Marsch erreichten wir die Flachdachkirche, die wegen ihrer Größe für Beerdigungen benutzt wird. Tonio wurde vor dem Altar aufgebahrt, und die Trauernden zogen vorbei, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Luft war heiß und stickig. Da mich meine Krawatte bei Temperaturen um die 38 Grad beinahe erwürgte, musste ich mich schwer beherrschen, mir nicht mit einer Bibel Luft zuzufächeln. Als sie merkte, in welch ungewohnter Umgebung ich mich befand – und damit meine ich die Kirche und nicht das Land -, behielt Daniela sowohl ihr Gesangbuch als auch mich genau im Auge. Der in schwere Gewänder gehüllte Don Francesco litt ebenfalls unter der Hitze. Er feierte eine schnelle Messe, die mit einem »Amen« endete – eines der wenigen Wörter seines Segens, die ich verstand. Bald darauf befand sich unsere Prozession wieder vor der Tür und wurde erneut von monotonem Glockenklang begleitet, bis wir den Friedhof erreichten.
Andranos Friedhof liegt am südlichen Ende des Ortes. Das bedeutete, dass unsere Prozession auf unserem zehnminütigen Spaziergang auch die Piazza Castello überqueren musste. Eine ziemlich passende Route, wie ich finde, und die Chance für Tonio, sich noch einmal richtig von seinem Ort zu verabschieden: Von der Chiesa di Sant’Andrea , in der er geheiratet, vom municipio , wo er seine Steuern bezahlt hatte (einschließlich der zehn Euro im Jahr für das Lämpchen auf dem Grab seiner Frau), und von der Bar, wo er gespielt, geraucht, Kaffee getrunken und seine Meinung kundgetan hatte. Als wir den Platz überquerten und die Kirchenglocke dröhnte, erzählte mir Daniela, dass Tonio jeden Tag seines neunzigjährigen Lebens in Andrano verbracht hatte. Das war etwas, auf das er stolz war. Er hatte Italien nie gesehen, geschweige denn die Welt. Andrano war seine Welt. Klein und überschaubar. Ein voller Magen und eine gesunde Familie. Was wollte man mehr?
Passanten neigten Köpfe und Hüte, als wir mit Tonio an ihnen vorbeizogen. Und so marschierten wir in der Bruthitze langsam weiter, bis wir das große Friedhofstor erreichten, wo ein Straßenschild steht, auf dem das Wort »Andrano« rot durchgestrichen ist und das sowohl das Ende des Ortes wie auch das von Tonio markierte. Dahinter lagen Olivenbäume, Felder, auf denen verschiedene Gemüsesorten angebaut wurden, und primitive Unterkünfte, die aus denselben Steinen errichtet worden waren wie die ungemörtelten Mauern, die ein Grundstück vom nächsten trennen. Dahinter befand sich der Absatz des italienischen Stiefels, das Meer und schließlich Afrika. Über den Friedhof ragte ein zehn Meter hoher Funkmast. Das Leben ging weiter.
Repräsentative Familiengräber, die fast schon winzigen Kapellen glichen, säumten den rechteckigen Friedhof, in dessen Mitte ein sechs Gräber hohes Bauwerk für die Toten stand. In Andrano liegen die
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