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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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bekommen.
    Die campana einer italienischen piazza ist wie ein Herz, das Blut in die Organe des Körpers pumpt. Sie spielt eine solch überlebenswichtige Rolle für das Leben eines Dorfes, dass die Einwohner von Adano die Alliierten in John Herseys Eine Glocke für Adano trotz ihres Hungers als Erstes bitten, die Kirchturmglocke zu ersetzen, die Mussolini zu Munition hatte einschmelzen lassen. »Das Seelenheil ist wichtiger als ein voller Magen«, sagte ein Dorfbewohner zu einem amerikanischen Major. Die Mailänder setzen andere Prioritäten, und die Glocke verliert irgendwie an Bedeutung, wenn ihr Läuten nur von den Mäusen im Glockenturm gehört wird.
    Daniela verspürte eine angeborene Zuneigung für Andranos Glocke und deren gelassene Choreographie eines gemächlichen Tagesablaufs. Ihre verächtliche Bemerkung über die Mailänder Glocke war nur ein Wutausbruch von vielen, die mir klarmachten, dass Daniela am Ende war und nicht die Glocke. Ohne mit mir darüber zu reden, stellte sie unseren Aufenthalt in Italiens Wirtschaftsmetropole immer mehr infrage. Als dann noch ihre Mutter anrief, um ihr zu sagen, dass ihr todkranker Vater einen epileptischen Anfall erlitten habe, die Treppe heruntergefallen sei, sich den Kopf angeschlagen habe und im Krankenhaus liege, dachte sie ernsthaft darüber nach zurückzuziehen – etwas, das sie nicht so bereitwillig getan hätte, wenn wir in Mailand glücklich gewesen wären.
    Daniela hasste die Atmosphäre in der farblosen Zementstadt. Ohne die Sonne, die ihre Haut wärmte, fühlte sie sich wie eine Fremde im eigenen Land. Das roboterhafte Leben der Mailänder und deren freudlose Besessenheit von der Arbeit befremdeten sie. Außerdem war sie es leid, gestresste Kinder zu unterrichten, die ihren Babysitter für ihre Mutter hielten. Sie konnte den Mailändern zwar ihre Verachtung für den Süden vergeben, nicht aber ihren mangelnden Respekt vor dem Befinden ihrer eigenen Stadt, die noch mehr hustete und nieste als sie selbst. Doch anders als Daniela konnte sich die Stadt Mailand nicht mal eben einen Tag frei nehmen, wenn sie krank war.
    In Mailand gibt es mehr Erkrankungen, die auf den Smog zurückzuführen sind, als in jeder anderen italienischen Stadt, einschließlich Neapel, wo Frischluft sogar in Dosen verkauft wird. Die EU warnte Mailand, dass die Luftverschmutzung die EU-Grenzwerte in einem gefährlichen Ausmaß überschreite. Doch am »europaweiten autofreien Tag«, an dem alle europäischen Großstädte einschließlich London, Paris, Rom, Madrid, Athen und München für den Autoverkehr gesperrt waren, lehnte Mailand das Angebot, etwas für eine sauberere Luft zu tun, mit dem Argument ab, man müsse schließlich arbeiten. Die EU solle die Umwelt doch bittschön außerhalb der Bürozeiten retten.
    Auch ich war enttäuscht von Mailand. Wie Daniela bereits in unserer ersten Woche in dieser Stadt bemerkt hatte, war es weniger der Nebel, der mich störte, sondern das, was er freigab, wenn er sich lichtete. Wie konnte eine derart wohlhabende Stadt nur so heruntergekommen aussehen? Das Zentrum war elegant, aber die Vorstädte waren der reinste Albtraum. Sogar teure Wohnviertel sahen hässlich aus. Und das Allgemeingut war so gepflegt wie der Bart eines Penners. Auf meinem Weg zur Arbeit sah ich, wie Leute ihre Hunde auf dermaßen verwilderten Wiesen ausführten, dass der Hund nur noch anhand der Leine seines Herrchens auszumachen war.
    Trotz ihrer Geldfixiertheit und ihres Talents zur Scheinheiligkeit waren mir die Leute sympathischer als die Stadt. Auch wenn sie sofort dabei sind, wenn es darum geht, Süditaliener als unzivilisiert zu bezeichnen, haben sie gelegentlich selbst reichlich schlechte Manieren. Nachdem wir die Miete ein halbes Jahr lang stets pünktlich gezahlt hatten, wurden wir eines Sonntagmorgens um neun von unserer Vermieterin geweckt, die fragte, warum unsere Miete noch nicht in der Post sei. »Heute ist der Monatserste«, sagte sie zu einer völlig verschlafenen Daniela. »Von Ihrer Miete bezahle ich meine Rechnungen. Wenn Sie nicht zahlen können, müssen Sie mir acht Tage vorher Bescheid geben, damit ich mich anderweitig behelfen kann.«
    »Können Sie Ihre Rechnungen am Sonntagvormittag bezahlen?«, fragte Daniela, die den Umschlag bereits für den nächsten Morgen bereit gelegt hatte, den ersten Arbeits tag des Monats.
    Noch im Schlafanzug ging Daniela nach unten und warf den Brief ein – allerdings ohne meiner Bitte nachzukommen, das » gentilissima « vor

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