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Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Siesta italiana: Meine neue italienische Familie

Titel: Siesta italiana: Meine neue italienische Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Harrison
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Bürgersteig und wich entgegenkommenden Fußgängern aus. Gesichter erschienen in den Fenstern, Ladenbesitzer eilten auf die überfüllten Gehsteige, und eine Nonne kam aus der Kirche San Tommaso und verrenkte sich den Hals in Richtung Kreuzung, die sich inzwischen sogar der Aufmerksamkeit Gottes sicher sein konnte.
    Aber nicht jeder sah dorthin. Das Paar vor uns in der Straßenbahn setzte seinen Kuss fort und vergaß alles um sich herum. Er war der typische italienische, sehr von sich überzeugte Herzensbrecher mit einer Hose von Versace, künstlicher Bräune aus dem Solarium, schulterlangem Haar und einem hochgeschlagenen Hemdkragen. Sie war Engländerin, blass und dicklich und ganz sicher noch neu in Italien. Die ausgelassenen Mittdreißiger hatten sich erst kürzlich kennengelernt – »vielleicht sogar in der Straßenbahn«, flüsterte Daniela. Und die einzige gemeinsame Sprache, die sie hatten, war die ihrer feuchten Küsse, wobei sie ihr Publikum kein bisschen kümmerte.
    Als sie schließlich merkte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, schob sie den Romeo von sich weg, zupfte ihre Bluse zurecht und setzte sich aufrecht hin. Daraufhin nahm er die Welt um sich herum erneut wahr und murmelte ein Kompliment.
    » Verry much … traffico «, sagte er und rollte das R in beiden Sprachen.
    »Ein Unfall?«, fragte sie.
    »Penso proprio di si.«
    »Wie bitte?«
    »Si, si.«
    Sie sah sich um und schien wie so viele Ausländer in Italien nervös zu werden, sobald das Gehupe losgeht, die Alarmsirenen losschrillen, die Stimmen lauter und die Gesten heftiger werden. Italiener sind an solche Szenen gewöhnt, aber Touristen glauben, der Weltuntergang stehe kurz bevor. Nachdem er in die Richtung aus dem Fenster gesehen hatte, wo der Lärm herkam, nahm er die Hand der Frau und sagte:» Andiamo. We walk.«
    Als sie weg waren, nahm ich Danielas Hand und ahmte seinen unbeholfenen Befehl nach: » Andiamo. We walk, too .«
    Ich zog die beiden ins Lächerliche, weil ich nur zu gut wusste, dass wir einmal ganz genauso gewesen waren. Vor weniger als einem Jahr war auch ich angesichts eines italienischen Unfalls nervös geworden. Ein Jahr später griff ich nun ruhig und gleichgültig nach Danielas Hand, so als sei sie der verwirrte Neuankömmling. Ich kannte mich aus und führte sie durch eine Schlange mit Autos, die es kaum erwarten konnten, nirgendwohin zu kommen. Ich überquerte eine weitere blutbefleckte Kreuzung, auf der eine Frau reglos am Boden lag, schob Passanten zur Seite wie Äste auf einem Waldweg und nahm dann eine Abkürzung, die direkt zum Dom führte, dessen prächtig weißer Marmor sich in der Abendsonne rosa färbte. Das sanfte Schimmern des Duomo bleibt meine schönste Erinnerung an Milano . Auch sie reichte nicht dafür aus, dass ich mir den Abschied noch mal überlegte, aber es war ein sehr schöner Abschied.
     
    Am Tag unserer Abreise flogen Pollen durch die Luft und wirbelten durch die Straßen wie Schnee. Daniela und ich hatten jeden Tag des vergangenen Jahres gemeinsam verbracht. Jetzt stand unser erster Abschied bevor, der ebenso zärtlich wie angespannt verlief. Ihre zierliche Hand schien wie für die meine gemacht zu sein. Daniela war verzweifelt, und ich schützte Tapferkeit vor, aber als ich sah, wie ihr Wagen um die Ecke bog, fiel ein langer dunkler Schatten auf meine Welt.
    Ich nahm einen Bus zum Flughafen und versuchte, nicht mehr an sie zu denken. Sie würde jetzt bald in Modena sein, hätte das Radio laut gestellt und das Fenster heruntergekurbelt. Ich checkte für den Flug nach London ein. Wetten, sie hört sich gerade das Crowded-House -Album an, das ich ihr geschenkt habe, summt mit und trommelt aufs Lenkrad? Ich trank einen Kaffee, während sich mein Abfluggate änderte. Bologna war ihr nächstes Ziel, dann die Adriaküste, 600 Kilometer immer am Meer entlang. Mein Flug wurde aufgerufen. Valeria würde etwas Besonderes kochen. Wahrscheinlich irgendein sizilianisches Willkommensgericht, es gab kulinarische Traditionen für jeden Anlass. Ich bestieg das Flugzeug und fand meinen Sitz. Wahrscheinlich ein Fleisch- oder Fischgericht, das denjenigen Glück bringt, die lange fort waren. Der Kapitän kündigte eine Verspätung an. Es würde getuschelt werden. Daniela kehrte allein zurück, und auf der Piazza würde die Gerüchteküche brodeln, was wohl der Grund dafür war. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, und ich blätterte die Seiten eines Buches um, das ich nicht las. Ob ihr Vater sie wohl noch

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