Sigma Force 01 - Sandsturm
Wunders.«
»Bis sie von einem Engel geschwängert wurde.«
»Ja, an diesem Punkt wird es zwischen den Religionen heikel.«
»Was ist mit dieser Statue, der am Kopfende des Grabes?«, fragte Cassandra und brachte das Gespräch wieder auf ihr eigentliches Ziel. »Warum wurde sie gerade hier aufgestellt?«
Safia stand vor dem Marmorstein und dachte über die Frage nach, wie sie es schon auf der Reise von London nach Oman getan hatte. Warum sollte jemand einen Hinweis auf Ubar an einer Stelle platzieren, die mit der Heiligen Jungfrau zu tun hatte, einer Gestalt, die von den drei monotheistischen Weltreligionen verehrt wurde – dem Judentum, dem Christentum und dem Islam? Weil diejenigen wussten, dass dieser Ort über die Jahrhunderte hinweg beschützt werden würde? Jede Religion hatte ein Interesse daran, die Grabstätte zu bewahren. Keiner konnte voraussehen, dass Reginald Kensington die Statue ausgraben und nach England in seine Sammlung schaffen würde.
Aber wer brachte die Statue ursprünglich zu diesem Heiligtum, und warum? Weil Salalah den Anfang der Weihrauchstraße markierte? War die Statue der erste Wegweiser, die erste Richtungsangabe ins Herz Arabiens?
Safia versuchte, die diversen Aspekte in einen Zusammenhang zu bringen: das Alter der Statue, die Geheimnisse, die dieses Grabmal umgaben, die religionsübergreifende Verehrung des Ortes.
Sie wandte sich Cassandra zu. »Ich muss das Herz sehen.«
»Warum?«
»Weil Sie Recht haben. Die Statue muss aus einem bestimmten Grund hier aufgestellt worden sein.«
Cassandra starrte sie lange an. Dann kniete sie sich auf einen Gebetsteppich und öffnete den Koffer. Das Herz glänzte matt in seiner schwarzen Passform.
Safia kniete sich neben sie und hob das Herz heraus. Wieder wunderte sie sich über sein Gewicht. Beim Aufstehen spürte sie das leichte Schwappen im Inneren, als wären die eisernen Kammern des Herzens mit geschmolzenem Blei gefüllt.
Sie trug es zu dem Marmoraltar. »Angeblich stand die Statue hier.« Als sie sich umdrehte, rieselten einige Weihrauchkristalle aus einem der Kranzgefäße und verteilten sich wie Salz auf dem Altar.
Safia hielt sich das Herz an die Brust, und zwar anatomisch korrekt – die Kammern nach unten, der Aortenbogen auf der linken Seite –, so wie es in ihrem Körper ruhen würde. Sie stand über dem langen, schmalen Grabmal und stellte sich die Statue vor, wie sie vor der Explosion ausgesehen hatte.
Sie war gut zwei Meter hoch gewesen, eine verhüllte Gestalt mit Kopftuch und Gesichtsschleier, so wie sich noch heute die Beduinen kleideten. Die Gestalt hatte ein langes Weihrauchgefäß, wie es bei Bestattungen verwendet wurde, auf der Schulter getragen, als würde sie mit einem Gewehr zielen.
Safia starrte auf die Körnchen uralten Weihrauchs hinunter. Wurde einst derselbe Weihrauch hier verbrannt? Sie legte sich die Faust kalten Eisens in die linke Ellenbeuge, hob ein paar Körnchen auf und warf sie in eine der Kohlenpfannen, zum Zeichen des Gebets für ihre Freunde. Sie knisterten, und eine frische Süße erfüllte die Luft.
Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war schwer vom Weihrauch. Der Duft der uralten Vergangenheit. Beim Atmen wanderte sie in der Zeit zurück, in die Zeit vor Christi Geburt.
Sie stellte sich den längst abgestorbenen Weihrauchbaum vor, der dieses Harz produziert hatte. Ein dürrer, kümmerlicher Baum mit winzigen graugrünen Blättern. Sie stellte sich die Alten vor, die sein Harz geerntet hatten. Es war ein zurückgezogen lebender Bergstamm, so isoliert und alt, dass seine Sprache dem modernen Arabisch voranging. Nur eine Hand voll seiner Mitglieder hatte in Isolation in den Bergen überlebt, wo sie sich mühsam und kärglich durchschlugen. Im Geiste hörte sie ihre Sprache, ein zischender Singsang, der mit Vogelgezwitscher verglichen wurde. Die Shahra – wie dieses Volk genannt wurde – behaupteten, die letzten überlebenden Abkömmlinge Ubars zu sein, und führten ihre Abstammung auf seine Gründerväter zurück.
Hatte ein solches Volk den Weihrauch selbst geerntet?
Während sie die Vergangenheit mit jedem Atemzug in sich einsaugte, spürte sie, wie ihr schwindlig wurde, wie alles sich drehte. Kurz konnte sie oben von unten nicht unterscheiden, und sie hielt sich am Altar fest, weil ihre Knie nachgaben.
John Kane packte sie am Ellbogen, dem Ellbogen, in dem das Herz ruhte.
Das Herz kippte aus der Beuge und fiel.
Mit dumpfem Klacken traf es den Altar und rollte
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