Silber
sicher, ob er dieses Versprechen auch halten konnte. Das Altern war seine größte Sorge.
Er betrachtete das Gemälde zum tausendsten Mal. Alles darin schien tiefe Scham auszudrücken. Die gefalteten Hände, die an die vielen Darstellungen von Petrus als Sünder erinnerten, der Gesichtsausdruck, und selbst die kahle Stelle an Judas’ Kopf, wo er sich die Haare ausgerissen hatte: Das alles waren klassische Gesten der Reue. Der Unterschied zwischen dieser Version und dem Original bestand in den Silbermünzen. Im Original konnte Judas den Blick nicht von den Münzen abwenden. In diesem Bild aber bot er das Geld Maria Magdalena an, und er sah sie dabei hoffnungsvoll, sogar fast liebevoll an. Er flehte nicht um Gnade. Stattdessen strahlte das Bild eine unbehagliche Schönheit und Wahrheit aus, die von Sir Charles’ Seele vom ersten Augenblick an Besitz ergriffen hatte.
Als kleiner Junge hatte sein Vater ihm das Gemälde gezeigt, das damals in der Galerie von Jacques Goudstikker in Paris gehangen hatte. Dort verblieb es bis zur Zeit der deutschen Besatzung, während der es, wie so viele andere große Kunstwerke, in der Privatsammlung von Hermann Göring landete. Danach galt es als verschollen in einem der vielen Gewölbe unter der Bahnhofstraße in Zürich.
Nach jahrzehntelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen, Verhandlungen und Drohungen waren einige der Gemälde wieder aufgetaucht, aber der nun folgende Prozess gestaltete sich nur noch schwieriger. Jacques Goudstikker hatte seiner Witwe zwar eine säuberlich mit Schreibmaschine getippte Inventarliste hinterlassen, aber ohne eine Sterbeurkunde verweigerten die schweizerischen Bankiers die Herausgabe der Schätze, die in ihren Tresorräumen leise Staub ansetzten.
Natürlich wurden solche Urkunden in Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka nicht für die dort ermordeten Juden ausgestellt. Die Schweizer versuchten lediglich, ihr Gesicht zu wahren, und wiesen dabei jede Schuld weit von sich.
Sir Charles war es gelungen, eine Kopie der Inventarliste von Goudstikker zu ergattern. Die Interpretation des
Reuigen Judas
mit dem Titel
Die Verehrung des Silbers
– oder kurz
Silber
–, war nicht auf dieser Liste aufgeführt. Dieser Umstand war zum Teil für seine Besessenheit mit verlorenen Schätzen verantwortlich.
Fast ein weiteres Jahrzehnt hatte er damit verbracht, die Leute in den richtigen Positionen zu bearbeiten, die wiederum die richtigen Tresore zu öffnen wussten. Den Rembrandt anschließend außer Landes zu schmuggeln, war eine vergleichsweise leichte Aufgabe gewesen. Nun hing das Gemälde über seinem Schreibtisch, als ständige Erinnerung daran, dass jede Geschichte zwei Seiten hat, auch wenn die Öffentlichkeit nur eine kennt. Er hatte dafür gesorgt, dass das Gemälde nach seinem Tod den Erben der rechtmäßigen Besitzer übergeben wurde. Auch das gehörte zu seiner Art.
Der Rest des Raumes wurde fast gänzlich von einem riesigen orthopädischen Bett eingenommen. Auch hier war der Mahagonirahmen an den Stellen zerschrammt, mit denen er immer wieder unsanft mit dem Rollstuhl in Berührung gekommen war. Engel, Dämonen und andere fantastische Geschöpfe waren kunstvoll in das Fries am Kopfende des Bettes geschnitzt. Sir Charles hatte die Schnitzerei in Palermo entdeckt und sie nach Nonesuch transportieren lassen; hier hatte er einen siebzig Jahre alten Kunsthandwerker engagiert, um ihm im Stil der alten Schnitzerei das Bett zu schaffen, in dem er zu sterben gedachte.
Neben dem ordentlich gemachten Bett stand eine grüne Sauerstofflasche, an deren geschlossenem Ventil eine durchsichtige Atemmaske hing. An der Wand daneben befanden sich weitere Bücherregale. Unterhalb des Fensters stand ein detailliert von Hand gravierter Globus, der das Mondlicht fing. Er war der älteste Gegenstand in diesem Raum, und die geographischen Linien darauf waren hoffnungslos falsch im Zeitalter von GPS und Satellitennavigation. Dafür standen darauf viele Namen, die von den modernen Karten ins Reich der Mythologie gerutscht waren: die Brasilinsel, Hawaiki, Lemuria, Ys, Thule und noch viele andere. Es waren Orte voller Geheimnisse und Verheißungen – und sie galten als verschollen, wie Rembrandts
Silber
.
Vielleicht, überlegte er, konnten auch sie noch entdeckt werden? Dieser Gedanke war ihm nicht neu, und es hatte etwas merkwürdig Beruhigendes, sich wie Don Quixote auf Windmühlen zu stürzen.
Sir Charles fuhr den Rollstuhl in einem bestimmten Winkel zwischen das Bett und
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