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Silber

Titel: Silber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Savile
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die Wand, zog sich die Sauerstoffmaske über das Gesicht und atmete tief durch, als der reine Sauerstoff in seine Lungen strömte. Nach ein paar tiefen, erfrischenden Atemzügen schloss er das Ventil und hängte die Maske wieder darüber. Einen Moment lang schloss er die Augen. Er hatte von Anfang an beabsichtigt, dass Orla die Untersuchungen in Israel leitete. Alles andere wäre eine Verschwendung ihrer nicht unerheblichen Fähigkeiten gewesen, wie sie es so vehement dargelegt hatte – aber er wusste auch genau, was ihr dort schon zugestoßen war. Die Entscheidung, dorthin zurückzukehren, hatte sie selbst treffen müssen.
    Der alte Mann trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Rollstuhls. Der Rhythmus klang wie der Trauermarsch von Gepettos hölzernen Spielzeugen. Seine Nägel
klackten
und
klinkten
und
klopften
auf Leder, Stahl und Holz. Er merkte, dass seine Gedanken abschweiften.
    Er war bei der Nachbesprechung von Orlas damaligem Einsatz nicht dabei gewesen, aber er hatte seitdem tausend Mal ihre Akte gelesen. Er kannte alle Details von Tel Aviv und wusste genau, was ihr dort geschehen war. Das Wissen schmälerte die Wirkung nicht. Es konnte nichts auslöschen oder reinwaschen, es bot weder Erlösung noch Vergeltung.
    Man hatte sie bei der zweiten Intifada gefangen genommen. Nach einer Serie von Selbstmordattentaten, deren Ursprünge die Israelischen Streitkräfte im palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin vermuteten, war sie dort eingeschleust worden. Sie waren auf der Suche nach Mahmoud Tawalbe, Vater von zwei Söhnen und Besitzer eines Plattenladens. Darüber hinaus war er der Anführer einer Zelle des Islamischen Dschihad und verantwortlich für etliche Opfer von Selbstmordanschlägen in Haifa und Hadera. Der Geheimdienst vermutete, dass sich auch Thabet Mar-dawi und Ali Suleiman al-Saadi, zwei weitere hochrangige Terroristenführer, in dem Lager aufhielten.
    Orlas Befehle waren einfach gewesen: Sie sollte das Flüchtlingslager infiltrieren, die Anwesenheit der primären und sekundären Zielpersonen bestätigen und wieder verschwinden. Sie erstattete Bericht, aber sie schaffte es nicht nach draußen. Sie wurde durch die behelfsmäßigen Straßen des Lagers in das Herz von Dschenin geschleift, das Hawaschin-Viertel, als am Morgen des 2. Aprils 2002 der erste Angriff begann. Die lautstarken Explosionen, die die Bulldozer bei ihrer Einfahrt begleiteten, begruben ihre Schreie.
    Sie hatten zu ihr gesagt, dass sie bereits tot sei, dass im Himmel kein Platz für ihre Seele sei, aber sie versprachen ihr, sie noch eine Nacht am Leben zu lassen, wenn sie sich ihnen hingab. Sie benutzten sie. Jede Nacht gaben sie ihr dasselbe Versprechen auf eine weitere Nacht. Sie hielten sie neun Tage lang fest, und obwohl die Zeit jede Bedeutung für sie verloren hatte, vermutete sie, dass sie jede Nacht von mindestens fünf Männern vergewaltigt wurde. Oft waren es zwei oder drei gleichzeitig, manchmal kam ein Mann allein. Sie kämpfte nicht gegen sie. Sie schlugen sie und lachten über ihre Schmerzen. Sie verhöhnten sie und trieben ihr damit die Tränen in die Augen. Sie missbrauchten und misshandelten sie. Aber sie weigerten sich, sie zu töten, selbst als sie sie darum anflehte. Irgendwie stand sie es durch, Nacht für Nacht, bis die Isrealischen Streitkräfte das Lager schließlich „befreiten“.
    Sie war seit vier Monaten als arbeitsunfähig abgeschrieben, als Sir Charles sie rettete. Der Vermerk in ihrer Akte lautete schlicht:
Folteropfer, psychisch labil. Weitere Beobachtung empfohlen. Falls in den nächsten Monaten keine Zustandsveränderung auftritt, wird die Entlassung aus dem aktiven Dienst empfohlen
.
    In weniger klinischen Worten war Orla Nyrén das Paradebeispiel für die „Ausschussware“, die einem Psychiater mehrere Jahre lang ein angenehmes Leben ermöglichen konnte.
    Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass Sir Charles schon nach den wenigen Jahren, die sie miteinander verbracht hatten, von Orla als der Tochter dachte, die er nie gehabt hatte. Er kannte sie so gut wie sonst kaum jemand, und sein natürlicher Vaterinstinkt trieb ihn dazu, wenigstens zu versuchen, sie zu beschützen, auch wenn sie das umso mehr verärgerte. Wäre es nach seinem Bauchgefühl gegangen, hätte er am liebsten Noah mit ihr geschickt. Von seinen Leuten war Noah der einzige, dem er ihr Leben anvertraut hätte, weil es völlig offensichtlich war, dass er sie ebenso verehrte wie der alte Mann selbst. Noah würde

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