Silberband 010 - Thora
Augen sahen. Everson glaubte zu wissen, daß er mit seiner
Position die imaginäre Mittelachse und die Randbezirke des Kreises halbierte. Früher oder später
würden ihn die tobenden Elemente immer weiter nach außen drücken. Voll Schrecken dachte der
Kommandant der MEXIKO an die Möglichkeit, daß es sich um einen Sog handeln könnte, der einen
Trichter im Boden bildete und alles mit sich hineinriß. Das würde bedeuten, daß sie sich nicht
mehr auf der Oberfläche einer Scheibe, sondern an der Innenwand eines Trichters befänden. Everson
wußte, daß solche Erscheinungen auf stürmischen Meeren möglich waren, aber hier gab es keine
Voraussetzungen dafür. Wirklich nicht? Sollten nicht wieder jene Kräfte am Werk sein, die auch
mit Bellinger ein grausames Spiel getrieben hatten? Schlugen die Unsichtbaren jetzt endgültig zu,
um die dreisten Erdenmenschen zu vernichten?
In diesem heulenden Chaos würde er keine Antwort finden. Ohne den Schutzanzug wäre er bereits
erstickt. Wenn er sich tatsächlich an der Innenwand eines Sandtrichters befand, dann würde er
sich in langsamen Spiralen zum unteren, mittleren Kern des Sogs hindrehen, um dort ausgestoßen zu
werden. Sein Körper badete förmlich in Sand. Der Schmerz in seinem Genick war zu einem dumpfen
Druck geworden, der in regelmäßigen Abständen durch heftiges Stechen abgelöst wurde. Obwohl er
hilfloser Spielball der entfesselten Natur war, kämpfte er unverdrossen gegen ihre übermächtige
Gewalt. Er verlor jeden Zeitbegriff. In seinen Ohren war ein Rauschen, als stände er unterhalb
eines Wasserfalls. Seine Zähne waren so ineinander verbissen, daß es schmerzte. Ein harter
Gegenstand prallte gegen seine Schulter. Er griff danach, und es gelang ihm, das Ding
festzuhalten. Wahrscheinlich gehörte es zur Ausrüstung und wurde gleich ihm über den Boden
gefegt. Everson war kein junger Mann mehr, und die ununterbrochene Anstrengung ermattete ihn
zusehends. Er klammerte sich an den eckigen Kasten, als könnte er Kraftreserven daraus schöpfen.
Unverhofft erhielt er einen Stoß gegen den Helm. Farbige Blitze zuckten vor seinen Augen. Seine
Hände öffneten sich. Er merkte noch, wie er immer schneller davongetrieben wurde, dann stürzte er
in eine bodenlose Schwärze.
»Er kommt zu sich«, sagte eine Stimme.
Marcus Everson öffnete die Augen. Grelles Licht blendete ihn. Er sah Dr. Morton, der mit
Verbandsmull hantierte und den Oberst zwischendurch unsanft anstieß. Nach mehreren Versuchen
hatte sich Everson an die Sonne gewöhnt, und er konnte die Augen offenbehalten.
Er lag im Sand. Um ihn herum saßen, lagen oder standen die anderen Mitglieder der Expedition.
Ihre Anzüge machten einen ramponierten Eindruck. Everson sagte sich, daß er wahrscheinlich nicht
viel besser aussah. Er hob den Kopf, verhielt aber sofort, weil ein durchdringender Schmerz durch
seinen Nacken raste. Langsam kehrte die Erinnerung zurück.
Erneut, diesmal mit größerer Vorsicht, richtete sich Everson auf.
Die Expedition – oder besser das, was von ihr übrig war – befand sich in einer
muldenförmigen Vertiefung inmitten der Wüste.
»Alles in Ordnung?« brachte Everson mühsam hervor.
»Bis auf die Verletzungen – ja«, erwiderte Dr. Morton. »Die Zelte und ein großer Teil der
Ausrüstung sind verschwunden.«
Er rollte eine Binde zusammen. Die Sichtscheibe seines Helmes war so verschmutzt, daß man kaum
das bärtige Gesicht erkennen konnte.
»Fast alle Medikamente sind dahin«, klagte er.
»Wo ist Napoleon?« fragte Everson.
Morton sah ihn traurig an.
»Der ist auch weg«, sagte er. »Sternal und Weiß haben schon nach ihm gegraben, aber bisher
haben sie ihn nicht finden können.«
Der Oberst wollte auf die Uhr blicken, aber sie war ein Opfer des Unwetters geworden. Dr.
Morton war der Richtung von Eversons Blick gefolgt.
»Es ist seit einer Stunde hell«, sagte er. »Die Männer haben sich im Lauf des Morgens alle
hier zusammengefunden. Wir waren im Mittelpunkt eines netten kleinen Wirbelwinds – und man
sieht es.«
Everson war die burschikose Art des Mediziners gewohnt, und sie konnte ihn nicht stören. Wenn
Morton eines Tages vom Teufel geholt würde – und es gab keinen Zweifel daran, daß ihm dies
Schicksal bevorstand –, dann stand der Hölle eine Revolution bevor, die sie in ihren
Grundfesten erschüttern würde.
Der Zustand der kleinen Truppe war schlimm, aber er hätte noch weitaus schlimmer sein können.
Landi
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