Silberband 055 - Der Schwarm
hinweg.
Als er noch nicht richtig auf der Treppe stand, erhielt er einen heftigen Stoß gegen die Brust. Er schrie auf, kippte nach hinten und fiel in ein korbähnliches Geflecht. Das war sein Glück, denn auf was immer er da gestürzt war, es dämpfte den Aufprall und rettete ihn auf diese Weise wahrscheinlich vor schlimmen Verletzungen.
»Bleiben Sie da unten!« rief eine schrille Männerstimme. »Ich bringe Sie um, wenn Sie nochmals versuchen heraufzukommen.«
Der Blinde, der gelernt hatte, feine Nuancen aus einer Stimme herauszuhören, spürte sofort, daß der Fremde ebenfalls Angst hatte.
Simon richtete sich auf. »Ich will nichts tun!« rief er. »Ich suche die Praxis von Dr. Fingal.«
»Die ist nicht hier!« sagte der Mann auf der Treppe abweisend.
Simon versuchte von der Stimme des Mannes auf sein Aussehen zu schließen, aber das war nicht möglich.
»Können Sie mir den Weg beschreiben?« fragte der legitimierte Dieb. »Ich werde gehen, sobald ich weiß, wo ich bin.«
»Dieses Geschäft befindet sich im Kammon-Haus«, antwortete der Mann. Seiner Ausdrucksweise nach zu schließen, mußte er die Verdummungswelle verhältnismäßig gut überstanden haben.
Der halbtote Simon wußte, wo das Kammon-Haus lag. Er hatte sich nur eine Straße weit von seinem Weg entfernt. Die Veränderungen in der Umgebung hatten ihn glauben lassen, daß er viel weiter vom Weg abgekommen war. Er wußte jetzt auch, in welchem Geschäft er sich befand. Oft genug hatte er vor dem Schaufenster gestanden und die Teppiche und Stoffe von fernen Planeten bewundert. Damals hatte er bedauert, daß dieses kleine Geschäft nicht zu einem Warenhauskonzern gehörte. Das hätte ihn legitimiert, etwas daraus zu stehlen.
»Ich bin der Besitzer!« Der Mann auf der Treppe war immer noch voller Angst.
In Simon wurde die Erinnerung an das schwarzhaarige kleine Männchen wach, das er früher durch das Schaufenster im Innern des Geschäfts beobachtet hatte.
»Haben Sie etwas zu essen?« fragte der Mann auf der Treppe. »Man hat das gesamte Kammon-Haus geplündert.« Er begann zu schluchzen. »Seit zwei Tagen hungere ich, aber ich wage mich nicht hinaus.«
»Sie sind überhaupt nicht dumm!« rief Simon überrascht.
Er erhielt keine Antwort.
»Warum gehen Sie nicht nach Imperium-Alpha?« fragte der Blinde. »Haben Sie die Aufrufe nicht gehört?«
»Ich gehe hier nicht raus!« erklärte der Mann auf der Treppe trotzig. »Lieber werde ich verhungern.«
Simon dachte angestrengt nach. Früher hätte er diesen Terraner begriffen, doch jetzt war ihm das unmöglich.
Der Dieb bewegte sich in Richtung des Ausgangs.
»Im Seitengang steht mein Fahrzeug«, bot der Geschäftsinhaber an. »Sie können es benutzen, wenn Sie es so eilig haben, zu Dr. Fingal zu kommen.«
Simon antwortete nicht und trat wieder auf die Straße hinaus. Abgesehen davon, daß er blind war, konnte er seit der Verdummung nur die einfachsten Maschinen betätigen. Das hatte er bereits unmittelbar nach der Katastrophe festgestellt.
Er überquerte die Straße. Eine Windbö warf ihn fast zu Boden. Aus der Ferne glaubte er eine Lautsprecherstimme zu vernehmen. Vielleicht war wieder einer der Gleiter von Imperium-Alpha unterwegs, um die verdummte Bevölkerung über neue Ereignisse zu unterrichten und ihnen Hinweise zu geben. Fast alles, was der Dieb bisher aus den Lautsprechern gehört hatte, war ihm unverständlich geblieben, obwohl die Männer und Frauen in den Gleitern sich Mühe gaben, auch für völlig Verdummte verständlich zu sprechen.
Simon wußte, daß auf der dem Kammon-Haus gegenüberliegenden Straßenseite mehrere mechanische Lifts eingebaut waren, die früher Kauflustige in die nächsthöhere Etage getragen hatten. Es war nicht anzunehmen, daß die Lifts noch funktionierten, aber es gab ganz in der Nähe eine Treppe, die ebenfalls zum Ziel führte. Wenn Simon sie fand, konnte er schnell wieder die Straße finden, die in Richtung von Dr. Fingals Wohnung führte.
Die Aussicht, wieder den richtigen Weg zu finden, gab Simon neuen Mut. Das Unwetter schreckte ihn kaum noch, obwohl es noch immer an Intensität zunahm.
Simon konnte keine Uhr zu Rate ziehen, aber er nahm an, daß es noch immer Tag war. Sein Erlebnis im Kammon-Haus schien das zu bestätigen.
Er fand die Lifts. In eine der Lifttüren war ein Toter eingeklemmt. Simon schrie auf, als er aus Versehen über das Gesicht der Leiche tastete. Vor den anderen Lifts lag ein umgekippter Gleiter. Ob er zufällig hier
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