Silberband 081 - Aphilie
Polizisten gehören konnte. Langsam glitten die Lichtkegel über Körper und Gesichter der Menschen, die hier in einem von Unrat erfüllten Hof saßen.
Ein Wohnraum im Freien!, dachte Crystal. Das hatte sie noch nicht gesehen. Etwa dreißig Menschen saßen auf alten Kisten, Fässern und den lächerlichen Fragmenten verrotteter Sitzmöbel im Kreis. Hinter ihnen standen rostzerfressene Kühlschränke, alte Öfen und Küchenmöbel, die mit Seilen, Holzlatten und Nägeln an den Ästen eines kahlen Baumes befestigt waren. Die Kochstellen der Herde waren herausgerissen worden, und rußige Töpfe, Konservendosen und Pfannen standen in den Flammen von Holzfeuern. Es stank unbeschreiblich. Crystal würgte einen Brechreiz hinunter und sah zu, wie Jocelyn auf einen alten Mann zuging, ihn am offenen Hemd packte und in die Höhe riss.
»Ich brauche eine Auskunft«, sagte er scharf.
»Ich sage alles, was ich weiß«, gab der Mann stumpfsinnig zurück. Wie eine sandgefüllte Puppe hing er in der Faust des Spechts. Das Licht fiel auf ein stoppelbärtiges graues Gesicht mit Hungerödemen und eingefallenen roten Augen.
»Wir suchen zwei Männer. Oder einen Mann. Er ist erst seit einiger Zeit in der Stadt, und wir wissen, dass er tagelang verschwindet. Er muss einen Raum in einem Lagerhaus haben.«
Es gab hier keine Kinder. Keine der dürren und ausgemergelten Frauen, die an den Herden hantierten und jetzt stumpf auf Jocelyn starrten, war unter sechzig Jahren.
»Nicht hier. Wir würden jeden sehen. Wir kennen uns alle, seit Jahren«, erwiderte der Alte.
»Keiner ist fremd«, murmelte der gespenstische Chor der anderen. »Wir haben Hunger, Herr.«
»Nicht meine Sache«, knurrte Jocelyn. »Dieser Mann oder diese Männer sind wohlgenährt. Sie haben Essen und Waffen.«
Klappernd fiel eine Büchse vom Herd und verschüttete den Inhalt, stinkende Suppe aus Baumrinde, toten Vögeln und Abfällen aus den Häusern reicher Menschen. In der Dunkelheit und durch die Optik der Infrarotbrillen verwandelte sich dieser Zwischenfall in eine Art Feuerwerk. Ein Mann, dem die heiße Brühe den Rücken verbrannte, sprang auf und wurde von einem Fußtritt Jocelyns wieder zu Boden geschleudert.
»Denk an den Schüttler!«, kicherte schrill eine Frau.
»Wer ist der Schüttler?«, fragte Crystal aus der Deckung des Handscheinwerfers heraus.
»Wir kennen seinen Namen nicht. Er geht von Haus zu Haus, zu jeder Gruppe. Er erzählt Geschichten von zwei Männern, die reich zu essen haben.«
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
Jocelyn schien Recht zu haben, dachte Crystal. Falls dies eine zuverlässige Antwort war.
»Erzähle mehr vom Schüttler! Wo sind die beiden Männer?«, herrschte Jocelyn den Alten an.
»Irgendwo dort vorn. Viele Kilometer weiter. Der Schüttler hat es nicht genau gesagt.«
»Wann kommt er wieder, um zu berichten?«, schnitt scharf die Stimme Crystals aus der Dunkelheit.
»Wir wissen es nicht«, sagte der vielstimmige Chor der verwahrlosten Hungernden. Ein Gefühl des Mitleides war Jocelyn und Crystal fremder als ein ferner Stern. Sie erkannten nur die Unterschiede zu ihrem eigenen Leben. Ein Rest Phantasie genügte der jungen Frau, sich eine Vision von seltsamer Eindringlichkeit zu vergegenwärtigen.
Durch die Dunkelheit der Nächte und die Verwahrlosung der Tage schlich ein alter Kranker, geschüttelt und zitternd unter dem Einfluss einer unbekannten Mangelerkrankung. Er sammelte Informationen, die ihm an allen Stellen dieses langen Streifens aus Verfall und Schmutz zugetragen wurden, und erzählte sie denen weiter, die über kein Visifon verfügten. Atemlos saßen die Ausgehungerten um ihn herum, löffelten ihre stinkende Suppe und kauten an Baumrinde … und hörten zu. Dann berichteten sie ihm, was sie selbst erfahren oder gesehen hatten, welche Sorgen sie quälten, was in ihrer Umgebung geschehen war. Während sie sprachen, aß auch er von den tagsüber gesammelten Abfällen.
Tausende gab es allein in diesem Teil der Stadt. Sie waren nicht mehr Teil der logisch und vernünftig funktionierenden Maschinerie der Stadt, und mit Recht kümmerte sich niemand um sie. Dies war natürlich und musste so sein, und wieder einmal konnte Crystal nicht verstehen, warum die Kranken mit einer pathologischen Besessenheit behaupteten, die Menschheit sei aphilisch, wäre ohne Liebe, ohne tiefe Gefühle.
Sie zuckte die Schultern, verwarf ihre Überlegungen und ließ das Licht des Scheinwerfers auf den verkommenen Gesichtern der
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