Silberband 081 - Aphilie
und setzte sich auf eine Bank. Er sah hier mehr ältere Leute, die im Schein der roten Sonne saßen und die Wärme genossen, die ihnen von den Menschen nicht mehr entgegengebracht wurde. Dafür hatte diese Sonne ihnen aber auch alles genommen, was sie von ihrer Jugend her noch kannten: die Liebe. Sie selbst konnten ebenfalls nicht mehr lieben, besaßen aber noch ihre Erinnerungen.
Ein Mann in seinem Alter näherte sich, zögerte einen Augenblick und fragte schließlich, ob der Platz auf der Bank noch frei sei. Vester hatte eine solche Höflichkeit nicht erwartet und gab ein wenig verwirrt seine Zustimmung.
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Überhaupt nicht.«
»Ausgezeichnet, dann will ich Ihnen sagen, dass ich viel verdiene und es mir gut geht. Ich habe schon das dritte Kind gezeugt und einen Vertrag mit meiner vierten Frau. Meine Firma gab mir einen leitenden Posten und …«
»Mir geht es ebenfalls nicht schlecht«, unterbrach Vester, der dem Fremden am liebsten gesagt hätte, er solle sich zum Teufel scheren, auf der anderen Seite aber hoffte, vielleicht doch Wissenswertes zu erfahren. Also passte er sich den Gewohnheiten der Aphiliker an. »Leider habe ich keine Frau, aber ich brauche auch keine. Mein Gehalt gehört mir ganz allein.«
»Ich denke genauso, doch auf Dauer kommen die Freudenhäuser zu teuer, wesentlich teurer als eine eigene Frau. Besonders teuer wird es, wenn man sich die Mädchen ins Haus kommen lässt.«
»Das ist allerdings Luxus«, bestätigte Vester. Überraschend fügte er hinzu: »Haben Sie noch einen Vater?«
Der andere war einen Augenblick lang verwirrt, dann zuckte er die Schultern. »Ich weiß nicht – vielleicht lebt er noch. Oder sie haben ihn ins Stummhaus gebracht. Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und nie Kontakt mit ihm gehabt.«
»Und Ihre Mutter?«
»Sie ist schon lange tot – zum Glück. Sie war eine Last für mich, denn sie sprach ständig von den alten Zeiten. Ich bin froh, dass ich sie los bin.«
Vester erschrak über die Gefühlskälte des anderen. »Mein Vater ist im Stummhaus, da ist er gut aufgehoben«, log er. »Trotzdem möchte ich manchmal wissen, ob er noch lebt und was er dort tut. Man hört nichts darüber …«
»Eine ganze Menge hört man. Schließlich interessiert es mich, weil ich selbst eines Tages das Stummhaus betreten muss. Ich will vorher wissen, was dann geschieht.«
»Darum habe ich mich noch nie gekümmert, und es ist mir auch egal.«
Der Fremde lächelte kalt. »Sie haben noch Zeit, nicht wahr? Ich glaube, den Alten geht es im Stummhaus recht gut, vielleicht zu gut. Man lässt sie nur deshalb nicht mehr heraus, weil ihr Geschwätz die jüngeren Menschen beeinflussen könnte.«
»Das wäre ein plausibler Grund.«
»Es gibt auch andere Gerüchte, aber von denen werden Sie schon gehört haben. Ich halte sie für baren Unsinn. Kein Mensch denkt daran, die Alten umzubringen. Lebendig bringen sie mehr Nutzen.«
»Welchen Nutzen?«, erkundigte sich Vester beiläufig. »Meiner Meinung nach sind sie unnütze Esser.« Er sagte es so kalt und gefühllos, dass er sich vor sich selbst schämte. Aber sein Gegenüber nickte zustimmend.
»Ganz meiner Meinung, nur wer kennt schon die Pläne der Regierung? Das Licht der Vernunft wird Gründe haben, einen Schleier der Ungewissheit über die Stummhäuser zu legen. Vielleicht gibt es sie nur, bis die alte Generation mit ihren Erinnerungen ausgestorben ist. Im Übrigen ist mir das alles ziemlich egal. Ich bin noch jung und habe Zeit; es geht mir gut, und ich bekleide einen einflussreichen Posten in meiner Firma. Was will ich mehr?«
Liebe!, hätte Vester am liebsten gesagt, aber er nickte nur und hielt den Mund.
Der Fremde blieb noch eine Weile wortlos sitzen, dann ging er wortlos.
Vester sah, dass er zwei alte Männer brutal zur Seite stieß, die auf dem Parkweg standen und miteinander plauderten. Der eine verlor den Halt und fiel hin. Der Fremde drehte sich nicht einmal um, und selbst der Gesprächspartner des Alten blieb tatenlos stehen und wartete, bis sich der Gestürzte aus eigener Kraft erhoben hatte. Dann setzten sie ihr Gespräch fort, als sei nichts geschehen.
Vester brach ebenfalls auf und verließ den Park. Er hatte Hunger und entdeckte in der Nähe des Hotels ein Restaurant, in dem er gut essen konnte. Beim Heimweg machte er einen Abstecher zum Stummhaus Nr. 23, aber da rührte sich nichts. Endlich gelangte er ins Hotel und fand Harst im
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