Silberband 081 - Aphilie
das Tor, für niemanden sonst.
Aber wer würde schon versuchen, freiwillig und ohne Aufforderung in ein Stummhaus zu gelangen, wenn es ein Stummhaus war.
Während Vester und Harst noch überlegten, wie sie das herausfinden sollten, näherten sich auf der anderen Straßenseite zwei alte Frauen. Sie kamen aus der Richtung der Wohnsilos und gingen sehr, sehr langsam. Vor dem Tor blieben sie stehen. Schweigend blickten sie auf die grauen Betonmauern und die stählerne Fläche des verschlossenen Eingangs. Dann griff die eine in ihre Tasche und holte – soweit die Beobachter das erkennen konnten – eine nur wenige Zentimeter große Karte hervor. Sie nickte ihrer Begleiterin zu, die ihrem Beispiel folgte.
Vester und Harst hatten sich in einen Hauseingang zurückgezogen. Um keinen Verdacht zu erregen, blätterte einer von ihnen in einem Notizbuch, als suche er nach einer Adresse. So konnten sie unauffällig beobachten.
In dem Tor öffnete sich eine normal große Tür. Ein Mann in dunkler Uniform erschien und winkte den Frauen zu. Sein Gesicht wirkte finster und mürrisch. Er trat zur Seite, als die Frauen passierten, dann folgte er ihnen, und das Tor schloss sich wieder.
Das war alles.
»Es muss ein Stummhaus sein«, flüsterte Vester bedrückt. »Dennoch wissen wir nicht mehr als vorher.«
Sie gingen weiter.
»Wir wissen zumindest, wo ein Stummhaus ist, Vester. Hast du die Zahl auf der Stahltür beachtet? Nummer 23, wenn ich richtig gelesen habe. Eines Tages wird sich uns die Gelegenheit bieten, es von innen zu sehen.«
»Wie willst du das anstellen?«
»Du hast ja gesehen, wie die Frauen hineinkamen. Einer von uns wird sich fünfzig Jahre älter machen, die Mittel dazu haben wir bald. Und dann nehmen wir einem alten Mann die Aufforderung ab.«
Vester nickte zögernd. »Das hört sich recht einfach an. Aber wie will derjenige von uns, der das Wagnis auf sich nimmt, wieder aus dem verdammten Stummhaus herauskommen? Das ist bisher keinem gelungen, wenn die Berichte stimmen.«
»Einer von uns bleibt draußen. Er wird über Funk informiert.«
»Damit hast du meine Frage nicht beantwortet.«
»Es gibt keine Antwort darauf. Lassen wir das Los entscheiden, wer hineingeht?«
Die Information war wichtig, nicht das Leben des Einzelnen. Sie änderten ihre Absicht, das Hotel zu wechseln, denn es lag nicht weit vom Stummhaus Nr. 23 entfernt. Auch war der Robotportier ein Typ älteren Datums und konnte unter Umständen getäuscht werden.
Abermals durchsuchten sie ihr Zimmer, konnten aber keine Veränderung feststellen. Harst sagte: »Wir haben Zeit und werden nichts überstürzen. Was wir für das Unternehmen benötigen, erhalten wir von unserem Gewährsmann in Melbourne. Ich werde ihn morgen aufsuchen und die Sachen holen. Du bleibst hier und beobachtest das Stummhaus. Wir müssen auf jede Kleinigkeit achten, um uns später nicht zu verraten. Studiere die Alten, die hineingelassen werden, ihre Reaktionen vorher, na, du kennst das ja.«
»Wenn ich sie schon studiere, dann werde ich auch derjenige sein, der Maske macht und hineingeht«, erwiderte Vester entschlossen.
Harst warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Warum denn das? Ich sagte doch, das Los entscheidet. Es ist so gut wie ein Todesurteil.«
»Trotzdem werde ich gehen.« Vester grinste schwach. »Schon aus Neugierde.«
Harst schüttelte den Kopf. »Du hast einen makabren Ehrgeiz, Vester. Wir reden später darüber. Jedenfalls stehen unsere Aufgaben für morgen fest. Achte auch darauf, ob die Alten freiwillig kommen oder ob man einige gewaltsam herbeischaffen muss. Das ist wichtig für die Gesamtanalyse des später zu beurteilenden Verbrechens.«
»Und wie schlagen wir heute den Nachmittag tot?«
Harst gähnte. »Was mich angeht, ich schlafe ein wenig. Du kannst dich draußen umsehen, wenn du Lust dazu hast.«
»Vielleicht entdecke ich ein gutes Restaurant.«
Vester schlenderte an den ersten Geschäften vorbei, die den Beginn der City verrieten. Ältere Leute bemerkte er kaum, aber viele Frauen, die ihre Einkäufe tätigten. Sie schienen mit den Rationen nicht auszukommen, die ihnen täglich ins Haus geliefert wurden. Oder sie hatten Extrawünsche.
Niemand beachtete ihn, und niemand kümmerte sich um den anderen. Jeder ging seinen eigenen Angelegenheiten nach, das war eine Selbstverständlichkeit. Und wenn sich zufällig zwei Bekannte trafen, berichtete jeder nur von sich selbst. Die Sorgen des anderen interessierten nicht.
Vester durchquerte einen Park
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