Silberband 081 - Aphilie
mir Quartier und Essen für einen Tag. Dann schickte er mich weiter. Er wird uns aufnehmen. Aber er darf nicht erfahren, dass wir auf der Flucht sind. Er ist der Polizeichef der Siedlung.«
»Bist du wahnsinnig, Kathleen? Er wird uns nach Melbourne zurückschicken. Sie haben Listen von jedem, der vor dem Stummhaus geflohen ist. Wir sind nicht die Einzigen.«
»Sie haben Listen von jedem, der verdächtig ist, ich weiß. Wir müssen es trotzdem versuchen. Der Polizeichef wird nicht auf den Gedanken kommen, ausgerechnet meinen Namen auf der Liste zu suchen.«
Kervin folgte ihr den Abhang hinab. Als sie die ersten Häuser erreichten, trafen sie zwar einige neugierige Blicke, aber niemand stellte eine Frage. Kathleen steuerte zielsicher auf ein flaches Gebäude mit zwei vergitterten Fenstern zu, klopfte gegen die hölzerne Tür und trat ein. Kervin folgte ihr in den halbdunklen Raum dahinter.
Ein Mann mit dunklem Bart sah ihnen entgegen, dann glitt so etwas wie Erkennen über seine Züge, aber keine Freude. »Du, Kathleen? Wieder auf der Wanderschaft?«
»Eine letzte Wanderschaft, Ben, bevor ich ins Stummhaus muss. Ich wollte mir die Gegend noch einmal ansehen.«
»Und wer ist dein Begleiter?«
»Ihm ergeht es ähnlich. Ich hoffe, wir können hier schlafen.«
Der Bärtige nickte. »Beide Zellen sind frei, etwas anderes kann ich dir nicht anbieten. Ich würde Ärger kriegen, wenn jemand erfährt, dass ich meine Mutter beherberge. Ich nehme euch für eine Nacht in Haft, das ist die beste Lösung.«
»Vielleicht hast du Recht, Ben. Morgen ziehen wir weiter, am Gebirge entlang nach Süden, bis wir wieder in Melbourne sind. Hast du auch was zu essen?«
»Die übliche Ration für Gefangene. Dort ist die Tür. Ich werde euch nicht einsperren.«
Als sie gingen, bemerkte Kervin Kathleens verstohlene Blicke hinüber zum Waffenschrank, der an der Wand neben dem Schreibtisch hing. Der Polizeichef besaß drei Gewehre uralter Bauart und einige Pistolen. Bei Letzteren handelte es sich allerdings um Energiewaffen.
Ein Wärter brachte das Essen und verschwand wortlos. Die beiden Alten schliefen in dieser Nacht getrennt, und am anderen Morgen kam Ben, um sie zu wecken. Es war noch sehr früh.
»Macht euch auf den Weg, bevor die anderen euch sehen und Fragen stellen. Ich weiß selbst nicht, warum ich euch helfe, aber nun verschwindet. Ich mag keine Schwierigkeiten. Lasst euch nicht wieder hier blicken.«
Als die Siedlung hinter ihnen lag und das Gebirge vor ihnen immer größer wurde, sagte Kathleen: »Hast du die Waffen gesehen? Ich glaube, wir werden ein Gewehr bald nötig haben, oder kannst du mit deinem Messer Kaninchen erlegen?«
»Meinst du, dein Sohn würde uns eins schenken?«
»Natürlich nicht. Wir müssen es stehlen. Aber das hat noch Zeit. Weiter jetzt, Kervin! Vielleicht finden wir noch heute die Höhle.«
Wieder marschierten sie den ganzen Tag, legten aber mehr Pausen ein als gestern. Auch Kathleens Kräfte ließen nach. Mit hundertdreiundfünfzig Jahren war man kein junges Mädchen mehr.
Der Weg wurde beschwerlich. Oft ging es steil bergan, dann kam wieder ein Stück Steppe oder ein Tal. Menschen oder Siedlungen sahen sie nicht mehr. Dafür wurden die nahen Berge immer größer und höher.
Sie liefen durch ein enges Tal, in dem ein Bach floss. Das Gras wuchs dicht und saftig, und Losung verriet, dass es sogar Wild gab. Vielleicht war das Gebiet einmal ein Naturschutzpark gewesen, früher …
Am Ausgang des Tals begann erneut eine anstrengende Kletterpartie. Total erschöpft erreichten die beiden ein von Baumgruppen und Felswänden fast eingeschlossenes Plateau. Mitten hindurch plätscherte der kleine Bach.
Kathleen ließ sich stöhnend auf einen Stein sinken. »Das war anstrengend. Oft möchte ich den Weg nicht mehr machen.«
Kervin setzte sich einfach in das hohe Gras. »Ich auch nicht, Kathleen«, pflichtete er schwer atmend bei. »Sind wir am Ziel?«
»Gefällt es dir nicht? Wir haben ein kleines Paradies, ganz für uns allein. Dort drüben, hinter dem Wald, müsste eine Höhle sein, wenigstens wurde mir der Ort so beschrieben.«
»Von wem?«
Sie seufzte. »Manchmal gehst du mir mit deiner Fragerei wirklich auf die Nerven. Sei froh, dass wir hier sind. Ein besseres Versteck kann es nicht geben, und niemand wird uns finden. Wasser haben wir auch genug.«
Nach einer Verschnaufpause machte sich Kathleen auf den Weg zur Höhle. Furchtlos durchquerte sie den kleinen und lichten Wald, dann stand sie
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