Silberband 088 - Der Zeitlose
Echo seines Schreis hörte er erschrecktes Kläffen, Jaulen und Winseln. Die glühenden Punkte verschwanden. Scharrende und hechelnde Geräusche entfernten sich, bis es völlig still war.
Bluff Pollard fror. Er wusste nicht, wo er sich befand. Er fühlte sich am ganzen Körper zerschlagen und hatte Mühe, auf die Beine zu kommen.
Der Winter ist früh hereingebrochen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber gleich schob er den Gedanken wieder beiseite. Gestern hatte er am Fernunterricht teilgenommen. Am ersten Tag nach der langen Sommerpause war alles gewesen wie sonst, als gäbe es keinen Schlund im Mahlstrom, auf den die Erde sich mit riesiger Geschwindigkeit zubewegte. Die Worte des Inspektors, der aus dem Holo zu ihm sprach, klangen Bluff noch in den Ohren: »Die Lehre der reinen Vernunft wird uns helfen, das Ungeheuerliche, das auf uns zukommt, zu überdauern …«
Anscheinend war es so gekommen.
Bluff Pollard betastete seine Umgebung. Er spürte eine raue Steinfläche. Rechts und links neben ihm wuchs sie in die Höhe und bildete zugleich den Boden, auf dem er kauerte.
Nach dem Unterricht gehe ich zum Pionierzentrum, wo wir alle zusätzlich in den Lehren der reinen Vernunft trainiert werden. Das Zentrum liegt außerhalb der Stadt an einem Hauptverkehrsweg. Ich muss einen Fußgängertunnel nehmen …
Die steinernen Wände, der raue Boden – das war der Tunnel. Er war normalerweise hell erleuchtet. Bluff Pollard stand jetzt auf wackligen Beinen. Er hatte Angst und stellte plötzlich fest, dass jahrelanges Training in den Anschauungen der reinen Vernunft ihm nicht beigebracht hatte, wie er sich gegenüber gefährlichen Kreaturen verhalten sollte, die in der Dunkelheit glühende Augen hatten und ihn ins Bein bissen.
Er hatte Sehnsucht nach dem Heim. Das war merkwürdig, denn bislang hatte er in dem Haus, in dem er zusammen mit eintausend anderen jungen Menschen lebte, nichts anderes gesehen als einen Ort, an dem er zu essen bekam und nachts schlief.
Irgendetwas war geschehen, das spürte er. Am Ausgang des Tunnels würde er sich orientieren. Bluff Pollard drang vorsichtig bis dorthin vor, wo sonst das Gleitband mit summenden und knarrenden Geräuschen die Fußgänger wieder an die Oberfläche beförderte. Aber das Band bewegte sich nicht mehr.
Hoch über sich hörte er ein zorniges Heulen und Orgeln, das ihm noch mehr Angst machte. Zudem wurde er sich der Kälte immer deutlicher bewusst. Bluff wusste, dass er von dieser Stelle aus in den Himmel hinaufblicken konnte … Schließlich war er den Weg oft genug gegangen.
Aber der Himmel war finster.
Baldwin Tingmer hatte die Katastrophe – was immer es sein mochte – einigermaßen heil überstanden. Als der Augenblick herannahte, in dem die Erde in den Schlund stürzen sollte, hatte er sich in seiner Hütte aufgehalten, wenige Kilometer außerhalb der Stadt Tin City. Er hatte sich dort eingerichtet, weil er im Regierungsauftrag Anomalien des irdischen Gravitationsfeldes in Alaska messen sollte. Baldwin Tingmer hatte sich seines Auftrags entledigt, wie es das Gewissen ihm gebot, denn seit einigen Monaten war er Kunde der PILLEN-Händler und hatte die Aphilie abgeschüttelt. Er hatte gemessen und aufgezeichnet, wie es in seinem Vertrag stand, und sich im Übrigen seelisch auf den Weltuntergang vorbereitet.
Zur Sicherheit hatte er kurz vorher noch drei Hand voll PILLEN zu sich genommen. Über zwanzig auf jeden Fall, schätzte er. Eine ebenso große Menge behielt er auf Vorrat, denn wenn der Sturz in den Schlund sein Leben nicht auslöschte, würde er das Medikament wieder brauchen.
Im entscheidenden Augenblick war er wohl bewusstlos gewesen. Er erinnerte sich noch an das wild zuckende Flammen des Himmels … dann war es plötzlich dunkel geworden.
Baldwin Tingmer erkannte mit Hilfe des technischen Geräts in seiner Hütte mühelos, dass zwischen dem Geschehen und der Finsternis irgendwie vier Monate verstrichen waren, über die er nichts wusste. Er fing an, nach Details zu suchen.
Als Erstes stellte er fest, dass das Wetter in Unordnung geraten war. Draußen tobte ein Höllensturm, wie Menschen ihn seit ewiger Zeit nicht mehr erlebt hatten. Baldwin Tingmer schloss daraus, dass die Wetterkontrolle versagt hatte. In seiner Hütte war es noch warm, und er hatte Licht. Das Notstromaggregat war angesprungen. Denn dass Licht und Wärme nicht mehr aus dem öffentlichen Netz kamen, bemerkte Tingmer, als die Bildwand nicht mehr reagierte.
Die Dunkelheit draußen
Weitere Kostenlose Bücher