Silberband 088 - Der Zeitlose
machte alles noch schlimmer. Der Winter war hereingebrochen. Dicht am Polarkreis bedeutete das, dass die Sonne nicht mehr über den Horizont aufstieg.
Baldwin Tingmer schloss sein Funkgerät an die Notversorgung an. Es meldete sich jedoch niemand. Er schloss daraus, dass der Sturz in den Schlund noch tiefer gehende Änderungen hervorgerufen haben musste als nur den Ausfall der Klimakontrolle.
Also machte er sich fertig zum Abmarsch.
Tin City und Umgebung waren schon zur Zeit des kontrollierten Wetters keine warme Gegend gewesen. Er legte seine heizbare Montur an und verließ die Hütte. In einem kleinen Seitengebäude hatte er einen Gleiter untergestellt, aber schon beim Öffnen der Hüttentür erkannte er, dass der Schnee fast zwei Meter hoch lag, ein klein wenig höher als sein Scheitel. Er schaufelte den Umkreis der Hüttentür frei und entschied sich, vorerst auf den Gleiter zu verzichten. Stattdessen schnallte er sich die Schneeschuhe an und kämpfte sich zur Höhe der Schneedecke hinauf. Ein heftiger Sturm tobte von Westen heran.
Baldwin Tingmer verdankte es allein seiner Kraft und Widerstandsfähigkeit, dass der Blizzard ihn nicht mit Schnee zudeckte und erstickte. Verbissen kämpfte er gegen die peitschenden Schneemassen an, bis er schließlich aus dem weißen Teppich, der die Welt bedeckte, merkwürdige Buckel und Hügel auftauchen sah: die Häuser von Tin City.
Er orientierte sich – was ihm nicht leicht fiel, obwohl er diese kleine Stadt so gut kannte wie keine andere auf der Welt. Er fand Humley's Bar und grub sich in den Schnee hinab, um zum Eingang zu gelangen. Die Tür ließ sich leicht öffnen, doch drinnen war es kalt und finster. Baldwin hatte eine Lampe mitgebracht, er überzeugte sich, dass die Bar und die angrenzenden Räume wirklich leer waren. Der Staub lag fingerdick auf dem Boden, auf Tresen, Tischen und Stühlen. Hier war seit Monaten niemand mehr gewesen.
Dabei wusste Baldwin Tingmer genau, dass eine Menge Leute sich geschworen hatten, ›den Augenblick des Untergangs‹ in Humley's Bar zu verbringen. Der Zustand der Theke sprach dafür, dass sie ihren Schwur gehalten hatten: umgestürzte Becher, eingetrocknete Pfützen, Reste von nicht ganz verzehrten Imbissen. Humley's Bar war ein altmodisches Etablissement gewesen – ohne Roboter und Servomechanismen.
Da aber alle, die den Untergang in Humley's Bar miterlebt hatten, spurlos verschwunden waren, schloss Baldwin Tingmer, dass die Auswirkungen seine Vorstellungen überstiegen. Es hatten sich einfach eine ganze Menge Leute … in Luft aufgelöst.
So weit kam er mit seinen Gedanken. Dann suchte er hinter dem Tresen nach Alkohol …
Walik Kauk ging der Rätselhaftigkeit seiner Lage mit der Systematik des in der Praxis geschulten Managers zu Leibe. Die Finsternis, das hatte er rasch festgestellt, hing mit der Jahreszeit zusammen. Erst in einigen Wochen würde die Sonne wieder über dem Horizont erscheinen. Dass er mehr als vier Monate in dieser Hütte überlebt hatte, ohne zu erfrieren, verdankte er dem Umstand, dass das Extraaggregat noch funktionierte, das die Energieversorgung sicherstellte, auch wenn das örtliche Netz ausfiel. Der Thermostat war lediglich zu tief eingestellt gewesen. Er änderte die Justierung, und bald wurde es in der Hütte gemütlich warm. Beleuchtung war ebenfalls vorhanden, und in der Vorratstruhe lagerte ausreichend Proviant für viele Tage.
Walik verspürte nur geringen Hunger, und das wunderte ihn. Nach vier Monaten Bewusstlosigkeit hätte ihn die Gier nach Nahrung schier in den Wahnsinn treiben müssen. Vermutlich, argumentierte er mit sich selbst, hatte er keine herkömmliche Ohnmacht durchlebt, bei der die Körperfunktionen erhalten blieben und Energie verbrauchten, sondern eine Art suspendierte Animation.
Nachdem er sich gestärkt hatte, kümmerte er sich um das Funkgerät. Wahllos stellte er Rufkodes zusammen und spielte sie durch. Von nirgendwo kam Antwort. Er hatte beinahe schon damit gerechnet. Die Erde schien sich seit dem Sturz in den Schlund in einem ganz und gar desolaten Zustand zu befinden. Viele Radakom-Anschlüsse waren von der öffentlichen Energieversorgung abhängig und mit deren Zusammenbruch ausgefallen. Warum sich keiner der selbst versorgenden Anschlüsse meldete, war jedoch nicht zu erklären.
Walik Kauk fand sich einfach damit ab. Es hatte keinen Sinn, sagte er sich, über Dinge zu grübeln, die sich ohnehin nicht durchschauen ließen. Seine größte Sorge war vorerst, wie
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