Silberband 094 - Die Kaiserin von Therm
wieder heraustrat, hatte er einen Schal um seine Schultern drapiert, so dass er beim Gehen hinter ihm herwehte. Ohne den Gefährten nur einen Blick zu gönnen, schritt er das Tal entlang. Bald wandte er sich nach rechts und verschwand zwischen zwei Felsblöcken.
Jentho Kanthall warf sein Besteck auf den Tisch, dass es klirrte. »Der Teufel soll diesen verdammten Mist holen! Wer glaubt Jan, dass er ist?«
Alaska Saedelaere war der Einzige in der Runde, der sich in der Frühzeit der terranischen Geschichte auskannte. »Mark Aurel«, antwortete er.
Mit zornigem Blick musterte Kanthall die beiden hoch aufragenden Felsen, zwischen denen Speideck verschwunden war. »Was wäre, wenn die Hulkoos jetzt angriffen?«, knurrte er.
»Wir müssten Jan sich selbst überlassen«, antwortete Walik Kauk ruhig. »Im Übrigen sollte sich der ehemalige Obmann von Plophos über solche Vorfälle nicht über Gebühr aufregen.«
Kanthall sagte kein Wort mehr.
Walik Kauk erwachte mitten in der Nacht. Eine brennende Unruhe quälte ihn. Er hätte am späten Abend aufbrechen sollen, um im Schutz der Dunkelheit durch die feindlichen Linien zu gelangen. Doch er hatte verschlafen – in einer Hütte, von der er nicht einmal wusste, wem sie gehörte. Tastend fand er seinen Schild, dann gürtete er sich mit dem aus zahllosen Kämpfen vertrauten Langschwert, das in der Hand des Geübten den feindlichen Kurzschwertern weit überlegen war. Er schlich zur Tür, deren Fugen sich ungewiss in der Dunkelheit abzeichneten. Als er öffnete und hinaus in die Kühle der Nacht trat, hörte er hinter sich eine Stimme.
»Walik …?«
Die Stimme eines Weibes. War Walik der Mann, dem die Hütte gehörte? Welch seltsamer Name. Unter den Awaren gab es solche Namen. Man hatte davon gehört, dass sich in den letzten Jahren Awaren an den Grenzen Pannoniens niedergelassen hatten. Sie waren ein träges, ackerbauendes und kampfscheues Gelichter, mit dem sich ein Markomanne nicht abgab.
Wer auch immer dieser Walik sein mochte – für den Mann, der jetzt vorsichtig die Tür hinter sich ins Schloss zog und im matten Licht der Sterne davoneilte, kam es nur darauf an, wer er selbst war. Botho, der Rächer!
Am neuen Morgen, wenn alles so ging, wie er es plante, würde er in unmittelbarer Nähe seines Opfers sein, und den nächsten Sonnenuntergang würde der falsche Römer nicht mehr erleben. Sie nannten ihn Antoninus Philosophus oder auch Marcus Aurelius. Der Klang dieser Namen allein reichte aus, um Bothos Blut in Wallung zu bringen.
Er schritt rasch an der östlichen Begrenzung des Tales entlang nach Norden. Er wusste nicht, wo er sich befand, aber er war mit der Gegend vertraut. Die Grenze lag irgendwo in nordöstlicher Richtung, er musste sie vor Sonnenaufgang erreichen. Die Römer waren erst gestern über die Duonawe vorgedrungen, die sie Danubius nannten. Sie hatten noch nicht genug Zeit gehabt, die Grenzbefestigung auszubauen. Er brauchte nur die Hilfe der Finsternis, um sich unbemerkt zwischen ihnen hindurchzuschleichen. Jenseits der Grenze würde er sich nach Osten halten und innerhalb von zwei Stunden den Fluss erreichen. Am jenseitigen Ufer lag Carpis, wo sich der Kaiser aufhielt.
Botho kam an eine Stelle, an der zwei schlanke, hochgewachsene Felsen dicht nebeneinander standen. Zwischen ihnen hindurch führte ein Pfad zur Höhe der Berge hinauf, die das Tal begrenzten. In diese Richtung wandte sich der Rächer.
Bei Morgengrauen hatte Botho die Grenze schon weit hinter sich gelassen. Er war noch nie so weit nach Osten vorgedrungen. Das Gelände sah anders aus, als er es sich vorgestellt hatte. Ihm war berichtet worden, der Strom fließe durch eine weite und fruchtbare Ebene. Stattdessen sah er nur wild zerklüftetes Gebirge. Es war ein sehr mühseliges Vorwärtskommen. Er brauchte drei Stunden statt einer, um den Fluss zu erreichen. Er hatte sich den Strom ruhiger und majestätischer vorgestellt – tatsächlich war es ein Gebirgsbach, dessen Wasser sprudelnd und rauschend über Klippen hüpften und in gischtenden Wasserfällen zu Tal schossen.
Er suchte sich eine Stelle, an der er ohne Gefahr übersetzen konnte. Von da an orientierte er sich am Lauf des Flusses. Mitunter, wenn die Duonawe sich über einen Felshang in die Tiefe stürzte, musste er klettern. Mehr als einmal verfluchte er den Schild, der ihn an jeder Bewegung hinderte. Er hätte ihn weggeworfen, wenn er nicht ganz sicher gewesen wäre, dass er ihn heute noch brauchen würde, um sein
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