Silberband 098 - Die Glaswelt
halb gelöst hatte, und fiel Casalle an. Der Thermoschuss fauchte dicht vor seinem Gesicht vorbei.
Er hat Viana getötet!, hämmerte es in Bluffs Bewusstsein.
Sein Hass hatte in diesem Moment nichts Menschliches mehr, als er Casalle angriff. Der Diktator stutzte – nur eine Zehntelsekunde lang, weil ihm unverständlich sein mochte, dass jemand ohne die geringste Aussicht auf Erfolg gegen ihn vorging –, aber gerade dieses kurze Zögern gab Bluff die einzige Chance in dem ungleichen Kampf.
Casalle drückte ein zweites Mal ab, und der Schuss fuhr haarscharf an dem Jungen vorbei, der die sengende Hitze spürte, aber in dem Moment auch schon das ehemalige Licht der Vernunft mit sich zu Boden riss.
Der Aphiliker drosch auf den Jungen ein, doch Bluff empfand längst keinen Schmerz mehr. Er kämpfte mit der Verbissenheit einer heiß gelaufenen Maschine, und in seinem Verstand dröhnte nur ein einziger Gedanke: Er hat Viana umgebracht.
Er trotzte Casalles Schlägen, bekam dessen Arm zu fassen und bog ihn mit übermenschlicher Kraft nach hinten. Der Aphiliker schrie auf, die Waffe polterte davon. Bluff hatte ihm den Arm ausgekugelt, und schon legten sich seine Hände um Casalles Hals. Mit aller Kraft drückte er zu.
Wie aus weiter Ferne hörte Bluff aufgeregte Stimmen. Er wusste nicht, dass sie ihm galten. Er sah Casalles Gesicht blau werden und spürte, wie jemand erst seine Handgelenke umklammerte und ihm gleich darauf die Finger zur Seite bog.
Plötzlich war eine vertraute Stimme dicht neben seinem Ohr. »Hör auf, Junge! Mach dir die Finger an ihm nicht schmutzig. Viana lebt!«
Bluff Pollard lockerte den Griff um den Hals des Gegners, er kehrte in die Wirklichkeit zurück. Mit einem Mal empfand er die tobenden Schmerzen, die Casalles Schläge ausgelöst hatten. Er schnappte noch nach Luft, dann kippte er zur Seite und verlor das Bewusstsein.
Zwei Stunden später hatte NATHAN auch die Funktionen für die inneren Sektoren von Imperium-Alpha reaktiviert. Viana, Casalle und Bluff Pollard wurden von Sailtrit Martling und Medorobotern in eine Intensivstation gebracht und behandelt. Grukel Athosien war plötzlich verschwunden.
Die Ärztin meldete sich sporadisch über Interkom bei den anderen. Sie beschrieb Bluff Pollards Zustand als wenig besorgniserregend, er hatte das Schlüsselbein und zwei Rippen gebrochen und würde in wenigen Stunden wieder auf den Beinen sein.
Viana hingegen schwebte in Lebensgefahr. Eine Operation verbot sich aufgrund ihrer schwächlichen Konstitution. Die Therapie beschränkte sich demnach vorerst auf Kreislauf stärkende Maßnahmen.
Trevor Casalle hatte keine nennenswerten körperlichen Verletzungen davongetragen, aber einen Schlaganfall erlitten. Er war bewusstlos. Die Medoroboter gaben ihm noch zwei oder drei Stunden.
Die Männer und Frauen der TERRA-PATROUILLE warteten schweigend. Gelegentlich kam eine Meldung von Bilor Wouznell, der als Einziger im Hauptquartier zurückgeblieben war. Er ließ wissen, dass die Konzepte immer noch feierten. Armeen von Robotern waren überall erschienen und hatten mit Aufräumungsarbeiten begonnen. Aus der Karibik kam die Meldung, dass ein verheerender Hurrikan, der sich der Insel Antigua genähert hatte, kurz vor der Landberührung spurlos verschwunden war – als hätte er sich in nichts aufgelöst. Das war ein erstes Anzeichen dafür, dass die Klimakontrolle wieder funktionierte.
Es war am späten Nachmittag, als Sailtrit Martling aus der Medostation in den Warteraum kam. »Casalle ist zu sich gekommen«, sagte sie. »Er will Menschen sehen.«
Als keiner der Wartenden sich rührte, fügte sie hinzu: »Ist hier ein Mensch?«
Jentho Kanthall und Walik Kauk erhoben sich daraufhin und folgten ihr.
Trevor Casalles Blick war matt geworden. Ruhig sah er den Eintretenden entgegen.
»Jentho Kanthall, ich erkenne Sie«, sagte er leise. »Aber Ihr Begleiter ist mir unbekannt.«
»Das ist Walik Kauk.« Kanthall war ziemlich überrascht, denn niemand hatte je gehört, dass Casalle die in der Aphilie verpönte förmliche Anrede gebraucht hätte.
Mit matter Geste winkte Casalle die beiden heran.
»Ich bin nicht mehr lange bei Ihnen«, sagte er. »Die Medos kennen mich als Mann der Vernunft und machen aus meiner Lage keinen Hehl.«
Er musterte zunächst Walik Kauk, dann Kanthall.
»Die Lehre der reinen Vernunft ist tot!«, sagte er dumpf. »Eigentlich hat sie nie gelebt. Im Namen dieser Lehre sind die größten Verbrechen an der Menschheit begangen
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