Silberband 098 - Die Glaswelt
es trotzdem weiter!«, erklärte Melnik. »Hier muss sich einfach etwas tun, sonst schwimmt das Land fort.«
Ngorok blickte in die massiv wirkende Regenwand, die sich kaum verändert hatte, seit sie sich an diesem verlassenen Ort befanden – und sie waren seit dreieinhalb Tagen hier. Der nahe Fluss war längst über die Ufer getreten, hatte Bäume und Sträucher entwurzelt, verfallene Häuser fortgeschwemmt und bedrohte nun die gesamte Stadt.
Er und Melnik waren durch einen kuppelförmigen Energieschirm, den der Projektor ihres Shifts erzeugte, vor dem Regen geschützt. Dennoch ging ihnen das Wetter auf die Nerven. Irgendwo in dieser Sintflut, wusste Ofool, geisterten mehrere Kampfroboter umher. Sie dienten ihrer Sicherheit. Er fragte sich allerdings, weshalb. Menschen gab es hier nicht – und Tiere hatten sie noch keine gesehen, außer aufgedunsenen Kadavern im Fluss.
Der Ingenieur kletterte in den Shift, während sein Kollege im Wartungsschacht verschwand. Er setzte sich in den Pilotensessel unter der transparenten Kanzel, goss sich aus seiner Thermoskanne Tee ein und fragte sich, wann er und Haval endlich zur SOL zurückbeordert würden. Seinetwegen konnte es auf dem Planeten Wolkenbrüche, Gewitter und Schnee- oder Sandstürme geben, soviel es wollte. Das war nicht seine Erde, und wie es aussah, würde diese Welt niemals wieder jemandem gehören.
Die jäh auf ihn einstürzende Lichtflut musste von einem explodierten Fusionsgeschoss stammen. Geblendet schloss er die Augen und ließ den Becher fallen, dann erst wurde ihm klar, dass es nur die Sonne Medaillon sein konnte, die alles mit ihrer Lichtflut überschüttete. Seit dreieinhalb Tagen hatte er sie nicht gesehen und auch jetzt nur, weil der Wolkenbruch schlagartig aufgehört hatte.
Ebenso abrupt wandelte sich sein Eindruck von der Umgebung. Unterhalb des künstlichen Hügels mit dem Second-Rechnersystem erstreckte sich bis zum Horizont eine saftig grüne Grasfläche. Und über allem spannte sich ein farbenprächtiger Bogen.
Nie zuvor in seinem vierunddreißigjährigen Leben hatte Ofool Ngorok so etwas gesehen. Kurz entschlossen schaltete er eine Funkverbindung zur Einsatzzentrale auf der SOL, schilderte einem der Diensthabenden das Phänomen und erbat Verhaltensratschläge. Sein Gesprächspartner konnte mit der Beschreibung des Phänomens ebenso wenig anfangen und fragte bei einer Nebenstelle SENECAs nach. Als sein Gesicht wieder erschien, wirkte er verlegen.
»Es handelt sich um einen sogenannten Regenbogen«, teilte er mit. »Eine atmosphärische Lichterscheinung, die durch Brechung, Spiegelung und Beugung der Sonnenstrahlen in Regentropfen zusammen mit Interferenzerscheinungen entsteht. Sie soll auf der Erde und auf erdähnlichen Planeten etwas Normales sein.«
Ofool schaltete ab und betrachtete den Regenbogen und die Landschaft mit einem völlig anderen Gefühl. Er ahnte plötzlich, weshalb die Erdgeborenen auf der SOL so versessen darauf gewesen waren, ihre Welt wiederzufinden – und danach, sie von der Herrschaft der Kleinen Majestät zu befreien.
Einige Stunden später schnallte Ofool Ngorok sein Flugaggregat um und flog hinüber nach Makindu. Er war neugierig darauf ge worden, wie die ehemaligen Bewohner dieses Ortes gelebt hatten – eine Regung, die er zuvor bei sich für undenkbar gehalten hätte. Unterwegs sah er die kegelförmigen Roboter des TARA-Typs über dem Boden schweben. Sie hatten sich im Umkreis von mehreren Kilometern verteilt.
Rund ein Viertel aller Häuser in der Stadt war infolge tektonischer Erschütterungen eingestürzt, der Rest mehr oder weniger schwer beschädigt. Ofool inspizierte das Innere einiger der am wenigstens mitgenommenen Gebäude. Dabei stellte er fest, dass die Wohnungen zwar mit allen Erzeugnissen einer hoch entwickelten Technologie ausgestattet, ansonsten aber beinahe barbarisch eingerichtet gewesen waren. In den Wohnräumen entdeckte er Sammlungen prähistorischer Waffen wie Speere mit breiten und extrem langen Stahlblättern, kurze Schwerter und ovale Lederschilde. Außerdem gab es fast überall aus schwarzem Holz geschnitzte Figuren und Dämonenmasken.
Als er den Zentrumsplatz der Stadt erreichte, musterte er nachdenklich die zehn Meter hohe Figurengruppe. Sie stellte einen schlanken, sehnigen Mann dar, der in einen ärmellosen Umhang gehüllt war und in der linken Hand einen ovalen bemalten Schild und in der rechten Hand einen Speer mit langer Klinge trug.
Der Mann lehnte sich mit dem Rücken
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