Silberband 102 - Aufbruch der Basis
Nacht erwachte Hamiller von einem ungewöhnlichen Geräusch. Es war finster. Eine Sekunde lang wusste er nicht, wo er sich befand. Er tastete um sich und berührte weiche, samtene Haut. Im selben Augenblick hörte er das Geräusch von Neuem. Es war Demeters Stimme.
»Ich kann den Auftrag nicht ausführen, ihr Götter!«
Demeter musste sich im Bett aufgerichtet haben. Sie sprach wie in Trance. Einem Impuls folgend, fragte Hamiller, wobei er seiner Stimme einen dumpfen Klang zu geben versuchte: »Warum kannst du das nicht?«
Demeter reagierte.
»Weil ich den Weg nicht finden kann, ihr Mächtigen. Seit Jahrtausenden bin ich auf der Suche, aber der Weg bietet sich mir nicht dar.«
Hamiller war schlagartig hellwach. Bot sich hier eine Möglichkeit, Demeters verschüttete Erinnerungen freizulegen?
»Wohin führt der Weg?«
»Zu dem Auge!«
»Zu welchem Auge?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wer weiß es?«
» Ihr wisst es, die Götter, die Mächtigen. Ich flehe euch an: Vergebt mir und entlasst mich aus dieser Verpflichtung!«
Hamiller überlegte blitzschnell. Er durfte den Faden nicht abreißen lassen. »Du bist eine Treulose!«, rief er ins Dunkel. »Bevor wir dich entlassen, müssen wir gewiss sein, dass du dich wenigstens bemüht hast, unseren Auftrag zu erfüllen.«
»Ich bin nicht treulos – ich war immer getreu!«, widersprach Demeter mit Nachdruck.
»Wohin haben deine Wege dich geführt?«
»Zu Utnapishtim und in das Land Eden, in die Stadt Henoch und nach …«
»Weiter!«, drängte der Wissenschaftler.
Jäh flammte das Licht auf. Hamiller blinzelte kurzsichtig. Neben ihm auf dem Lager saß Demeter und musterte ihn misstrauisch. Sie selbst hatte die Beleuchtung eingeschaltet.
»Weiter was?«, fragte sie.
Hamiller erkannte sofort, dass es günstiger war, in dieser Lage nicht den Dummen zu spielen. Demeter war unerwartet aus der Trance erwacht und hatte seine letzte Frage gehört.
»Du hast im Traum gesprochen«, sagte er. »Plötzlich unterbrachst du dich. Ich wollte, dass du weiterredest.«
Demeter wirkte verwirrt. »Was habe ich gesagt?«, wollte sie wissen.
»Etwas von einem Auge.«
»Von einem Auge? Was war damit?«
»Genau das wollte ich eben erfahren.«
Hamiller musterte die schöne Fremde eindringlich. Ihr Erstaunen schien echt zu sein. Die Trance hatte einen Teil ihrer unterdrückten Erinnerungen kurzfristig an die Oberfläche gebracht. »Du sagtest ungefähr, dass du den Weg nicht finden kannst, der zu dem Auge führt«, stellte er fest.
Demeter saß eine Zeit lang nachdenklich, dann schüttelte sie den Kopf. »Das bedeutet mir nichts. Bist du sicher, dass du das gehört hast?«
»Ziemlich sicher.«
»Kann es sein, dass du selbst geträumt hast?«
»Kann auch sein«, gestand der Wissenschaftler.
Demeter löschte das Licht.
2.
Am 30. April verlegten die vierhundert Mitarbeiter des Allgemeinen Flugbetriebs ihren Tätigkeitsbereich aus dem Umfeld der bisherigen Steuerzentrale in die Gebäude des Zentralsegments. Hamiller war in seine Wohnung zurückgekehrt, nachdem er sich von Demeter verabschiedet hatte. Als in der geschäftigen Umgebung der Steuerzentrale endlich Ruhe einkehrte, bestellte er Harso Sprangohr zu sich.
Sprangohr war der Einzige an Bord der BASIS, der außer Hamiller Dunja Varenczys wahre Identität kannte. Boyt Margor hatte es für richtig befunden, ihn über diese Frau zu informieren.
Hamiller berichtete von seinem nächtlichen Erlebnis. Aber wenn er der Ansicht gewesen war, dass sein Gegenüber in irgendeiner Weise darauf reagieren würde, dann sah er sich getäuscht. Sprangohr hörte ihm unbewegt zu und schaute schließlich nachdenklich vor sich hin.
»Damit kann man vermutlich nicht viel anfangen. Die Namen, die Demeter genannt hat, sind natürlich interessant. Utnapishtim stammt aus dem Gilgamesch-Epos, Eden und Henoch kommen in der Bibel vor. Utnapishtim ist eine Person, Eden und Henoch sind Orte. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie vor der Sintflut existierten.« Sprangohr sah auf. »Das ist aber auch alles.«
Hamiller nickte. »Ich konnte ebenfalls nicht mehr daraus machen. Aber es scheint geraten, Demeter im Auge zu behalten. Unter gewissen Umständen gelingt es ihr offenbar, Bruchstücke ihres Gedächtnisses zurückzurufen.«
Sprangohr grinste breit. »Schon richtig – aber wenn man dazu neben ihr im Bett liegen muss, dann kommen für diese Aufgabe eigentlich nur Sie infrage!«
Am Morgen des 1. Mai saß Payne Hamiller in seinem Wohnraum über
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