Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
jedoch aus einer hohen, dicken Steinwand, die gewaltigen Kräften widerstehen konnte. Die Priesteranwärter, die sich mit den übrigen Priestern des Götzenkults bereits hier aufhielten, hatten sich bis an den Rand der ovalen Riesenhalle zurückgezogen. Nur von dort aus konnten sie über die Mauerkrone hinwegblicken.
Pankha-Skrin bemerkte, dass die Priester an der Spitze des Zuges sich in einem Zustand ängstlicher Erregung befanden. Offenbar bestand die Gefahr, dass Kukelstuuhr aus seiner Höhle hervorbrach, bevor die letzten Priester Gelegenheit fanden, sich hinter der Barrikade in Sicherheit zu bringen. Sichtlich nervös dirigierten die Bleichhäutigen die kleine Schar der Opfer in die Mitte der Halle. Sie zogen sich eilig hinter die Barriere zurück, als die Gefangenen die gewünschte Position erreicht hatten.
Eine Ausnahme bildeten Awustor und seine vier Begleiter. Sie gaben sich, als sei keine Gefahr vorhanden. Pankha-Skrin sah sie aufmerksam die Umgebung mustern, als seien sie nie zuvor in dieser Halle gewesen. Awustor ließ den Blick über die Barriere gleiten und machte, halb unbewusst, eine entmutigte Geste. Sie entging dem Quellmeister nicht.
Der Loower wandte seine Aufmerksamkeit dem Durchgang im Hintergrund der Halle zu, den die Priester ›das Murcon‹ nannten. Es handelte sich um einen breiten, unregelmäßigen Spalt, der fast bis zur Decke hinaufreichte. Dieser Spalt, vermutete der Pankha-Skrin, war auf natürliche Art und Weise entstanden. Wenn seine Ausmaße Rückschlüsse auf die Größe des Ungeheuers Kukelstuuhr erlaubten, dann hatten die Gefangenen in der Tat wenig Aussicht, die Zeremonie zu überleben. Die Höhe der Öffnung betrug wenigstens dreißig Meter.
Auf ein Kommando hin stimmten die Priesteranwärter den Gesang der Erhabenheit an. Pankha-Skrin schien die Melodie von unübertrefflicher Eintönigkeit zu sein.
Durch den hohen Spalt ertönte dumpfer, dröhnender Donner. Die Priesteranwärter waren währenddessen kaum noch zu hören, obwohl sie sich Mühe gaben, ihre Lautstärke zu erhöhen.
Pankha-Skrin sah sich um. Er kannte die Physiognomie der Zaphooren mittlerweile gut genug, um zu erkennen, dass die Männer und Frauen Todesangst empfanden. Mit weit aufgerissenen Augen und bleichen Gesichtern starrten sie auf den Spalt, durch den das fürchterliche Geräusch gekommen war. Einige schlugen sich hemmungslos schluchzend die Hände vors Gesicht.
Der Quellmeister empfand Mitleid mit den Geplagten. Er wandte sich an einen, der ihm am nächsten stand.
»Verzage nicht! Wenn wir den Mut nicht verlieren, winkt uns womöglich allen die Freiheit. Kukelstuuhr wird den heutigen Tag wahrscheinlich nicht überleben!«
Der Mann, ein junger Zaphoore mit verwachsenem Gesicht und drei Augen, blickte ihn verständnislos an.
»Ich weiß, was ich sage!«, beharrte Pankha-Skrin. »Wiederhole den anderen, was du von mir gehört hast! Sie dürfen den Mut nicht verlieren – das ist das Wichtigste.«
Er wandte sich ab, denn es gab fünf Wesen in dieser Halle, deren Aufmerksamkeit er nicht unnötig auf sich ziehen wollte.
In der letzten Pause der Ruhe vor der großen Opferfeier drangen die Geister der Vergangenheit in das Innere der Schleierkuhle ein. In den Gängen, die den Kern des Labyrinths im Innersten der Kosmischen Burg umgaben, stießen sie auf die letzten Kukelstuuhr-Priester, die noch auf der Suche nach Opfern waren. Sie jagten den Bleichhäutigen einen höllischen Schrecken ein und folgten ihnen geräuschlos. So gelangten sie hinter den Priestern in die Halle des Feuers.
Erst ein einziges Mal hatte sich ein Geist der Vergangenheit in die Tiefe der Schleierkuhle gewagt. Es war demnach eine schlechte Nachricht, wenn ein Priester vom Auftreten weiterer Geister berichtete. Schlechte Nachrichten aber waren dem Oberpriester unwillkommen. Für gewöhnlich pflegte er ihre Überbringer zu bestrafen – in schlimmen Fällen so hart, dass er ihnen den Priesterrang nahm und sie zu Opfern für die Gottheit erklärte. Verständlicherweise lag den Betroffenen angesichts der bevorstehenden großen Opferfeier und der geringen Zahl der bisher gefangenen Opfer nichts daran, das Risiko einer solchen Entwicklung einzugehen.
Deshalb wusste niemand von der Anwesenheit der Geister, und es gelang diesen, die Halle mit dem Piedestal zu erreichen. Dass dies der letzte Tag vor der großen Opferfeier war, hatten die Geister noch nicht in Erfahrung gebracht. Es war ohne Zweifel eine Gunst des Schicksals, die
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