Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
nächsten Moment war er wieder auf den Beinen. Wie vom Katapult geschnellt schoss er in die gaffende Menge hinein. Der Erste, mit dem er zusammenprallte, war ausgerechnet der Humpelnde Tantha. Beide verloren sie das Gleichgewicht.
Tantha konnte nicht verhindern, dass seine Maskierung durcheinandergeriet. Der Teil seines Anzugs, den er in eine Kapuze verwandelt hatte, wurde nach hinten geschoben und fiel ihm auf die Schultern. Vollei hatte sich inzwischen wieder aufgerafft und wollte davoneilen. Als er aber dem Humpelnden ins Gesicht sah, huschte es wie ein Blitz über seine Züge, seine Miene nahm einen spöttischen Ausdruck an. Er vergaß die Flucht und wandte sich stattdessen Verdantor zu, der mit mehreren Priestern im Begriff war, die Verfolgung aufzunehmen.
»Wen habt ihr denn da?« Er deutete auf Tantha. »Wie lange ist der schon bei euch?«
Verdantor, von der unerwarteten Entwicklung überrascht, bedachte Tantha mit einem forschenden Blick.
»Er ist ein Anwärter«, antwortete er. Und dem Humpelnden zugewandt, fragte er: »Bist du nicht der, der gestern am Feuer saß, als es fast schon erloschen war?«
Tantha machte die Geste der Zustimmung. Der Tolle Vollei aber brach in höhnisches Gelächter aus.
»Ein Anwärter? Du meinst, er soll irgendwann ein Priester werden? Der Humpelnde Tantha, der getreuliche Begleiter und Beschützer des Gastwirts?«
Verwirrt wandte sich Verdantor an Tantha. »Ist das wahr?«, wollte er wissen.
Der Humpelnde war mittlerweile dabei, sich die Kapuze wieder über den Kopf zu ziehen.
Verdantor aber schlug ihm die Hand beiseite und wiederholte seine Frage energischer: »Ist das wahr?«
»Ich weiß nicht, wovon der Mann redet.« Tantha machte die Geste des Nichtwissens.
Verdantor rief drei Priester herbei. »Bringt beide Männer in getrennte Gefangenenzellen! Was den vermeintlichen Anwärter betrifft, werden wir bald ermitteln, ob er echt ist oder nicht.«
Der Humpelnde Tantha war verzweifelt. Er steckte in einer Zelle, die so ärmlich ausgestattet war wie die Hajliks. Obendrein hatten die Priester die Tür verriegelt. Darüber, was Verdantors Ermittlungen ergeben würden, gab er sich keinen falschen Hoffnungen hin. Die Priester brauchten nur die echten Anwärter abzuzählen, dann erkannten sie, dass er sich eingeschlichen hatte.
Wie sollte er jetzt dem Loower helfen? Ein Dutzend Mal und mehr versuchte er seine Kraft an dem Riegel. Der Erfolg blieb ihm versagt.
Als ihm an diesem Abend das Essen gebracht wurde, sah er drei Priester vor der Tür. »Was hat Verdantors Ermittlung ergeben?«, wollte er wissen. »Ist meine Unschuld endlich bewiesen?«
»Das weißt du selbst«, antwortete einer der drei. »Du bist ein Schwindler und sollst besonders gut gefüttert werden, damit Kukelstuuhr dich bei der Opferfeier ja nicht übersieht!«
Tatsächlich bekam der Humpelnde Tantha eine besonders große Schüssel voll Brei und zwei Krüge Wasser statt nur einem. Die Priester schlossen die Tür und verbrachten mehrere Minuten damit, sie sorgfältig von außen zu verriegeln. Der Humpelnde machte sich inzwischen über seine Mahlzeit her und verzehrte alles bis auf den letzten Bissen – nicht weil er dem Götzen gefallen wollte, sondern weil er fühlte, dass er seine Kraft brauchen würde.
Der Tag verstrich ansonsten in quälender Ereignislosigkeit. In der nächsten Pause der Ruhe, der letzten vor der großen Opferfeier, erklang aus den Tiefen der Schleierkuhle dumpfes Rumoren. Als finde in der Halle des Oberpriesters eine Schlacht statt.
Stunden später wurde die Zellentür geöffnet. Draußen standen abermals drei Priester.
»Der Augenblick des großen Opfers ist gekommen!«, verkündete einer von ihnen feierlich. »Die Gottheit wird sich deiner erfreuen!«
Der Humpelnde Tantha trat in den Gang. Dort standen bereits fünf weitere Opfer, unter ihnen Hajlik und der Tolle Vollei. Hajlik hatte Tränen in den Augen, Vollei starrte trotzig vor sich hin. Tantha trat auf den Freidenker zu.
»Du musst stolz auf das sein, was du dieser Frau und mir angetan hast!«
»Sei still!«, fuhr ihn der Tolle Vollei an. »Sie ist an allem schuld!«
Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Priester öffneten eine Tür nach der andern. Pankha-Skrin war der Letzte, den sie aus seiner Zelle holten. Der Humpelnde Tantha suchte sofort seine Nähe.
»Ich habe versagt«, bekannte er. »Ich habe meine Fähigkeiten überschätzt und bin nicht mehr in der Lage, für deinen Schutz zu sorgen. Vergib mir,
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