Silberfieber
sein.« Ross zeigte den Weg, den der tote Institutsmitarbeiter durch die Meeresströmung genommen haben musste, indem er mit dem Zeigefinger einen langgezogenen Bogen beschrieb, der irgendwo nicht weit vor ihren Füßen am Ufer von Wavy Island endete.
»Könnte sein, dass er irgendwo hier vorne ins Wasser geworfen wurde«, erklärte er. »Wäre er aus der anderen Richtung vom Kontinent her angeschwemmt worden, hätte das Tage gedauert, und das Wasser wäre längst in seinen Körper eingedrungen. Dann hätte die Leiche anders ausgesehen. Aufgedunsen und fleischig, mit geplatzter Haut und von den Fischen angeknabbert.« Er sah Christine Kellers vielsagenden Blick. »So ähnlich jedenfalls.«
»Ich bin mir sicher, Wavy Island hat ihn auf dem Gewissen«, sagte er. Als ob er seine Worte unterstreichen wollte, nieste er kräftig auf den Inselboden und schnaubte anschließend in sein Taschentuch.
Sergeant Grimsby hatte offenbar lange genug im kalten Wind vor dem Auto gestanden. Er bewegte sich in Richtung Fahrertür, als könne er es nicht abwarten, mit der Inselerkundung zu beginnen. Doch Hauptkommissarin Keller und Captain Ross rührten sich nicht. Christine Keller suchte mit einem Fernglas das Inselufer ab. Captain Ross hatte es auf der Suche nach Taschentüchern aus dem Innenfutter seiner blauen Pilotenjacke hervorgezaubert.
»Nachdem wir den Leichnam entdeckt hatten, haben wir die Insel einmal komplett umrundet und das ganze Ufer nach Spuren abgesucht«, sagte Grimsby.
»Und?«, fragte Frau Keller, ohne das Glas abzusetzen.
»Nichts. Wäre aber auch ein Wunder gewesen. Die Tide steigt zwar nicht immer bis zur gleichen Höhe an, sie nimmt aber regelmäßig alles mit, was wir vielleicht hätten finden können«, sagte er.
Christine Keller entdeckte im spärlichen Uferbewuchs zwischen Riedgras und Moos zwei Vögel mit dunkelroten Schnäbeln, die ihnen wie ein merkwürdiger kantiger Haken vom Kopf abstanden. Sie nahm sich vor, auf dem Rückweg beim Informationszentrum nach einer Hinweistafel über Vogelarten Ausschau zu halten.
»Was hat er auf Wavy Island gewollt?«, fragte sie und hielt das Glas auf die beiden Vögel gerichtet. »War er auch auf Schatzsuche?«
»Das sind übrigens Papageientaucher«, erklärte Captain Ross, »so spät im Jahr sieht man sie nur noch selten.« Sie setzte das Fernglas ab. Frederic Ross lächelte sie an. Sergeant Grimsby schüttelte den Kopf, öffnete die Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz.
»Setzen wir uns doch ins Auto«, sagte Frederic Ross, »da ist es nicht so windig.« Christine Keller steckte das Fernglas in die Regenjacke und kletterte auf die Rückbank. Captain Ross setzte sich auf den Beifahrersitz, öffnete das Handschuhfach und fand eine frische Packung Papiertaschentücher.
»Nein, der Mann aus Quebec war Biologe«, sagte er, »die sind zwar auch verdammt neugierig, aber sie interessieren sich nicht für vergrabene Schätze. Meistens entnehmen sie zwei Wochen lang Proben, und dann verschwinden sie glückselig in ihrem Labor und sind erst mal ein halbes Jahr beschäftigt. Dann kommen sie im nächsten Sommer wieder und fangen wieder von vorne an. Er war ein junger Kerl, aus Montreal, hat beim Ozeanographischen Institut in Quebec gearbeitet. Ich glaube, er hat Uferpflanzen untersucht, muss für die Leute ziemlich interessant sein, wegen des Tidenhubs. Sein Name war Patric LeClerque, fünfundzwanzig Jahre alt, aber was er genau auf Wavy Island gewollt hat, wissen wir nicht. Er hat sich nicht angemeldet, ist anscheinend auf eigene Faust losgezogen, was eigentlich nicht in Ordnung ist, denn alle Forschungsvorhaben in der Cruden Bay oder auf Wavy Island müssen vorher beim County beantragt werden. Zumindest aber sollten sich die Leute bei uns anmelden.«
»Wusste sein Institut nichts über seinen Aufenthaltsort?«
»Nein, es war Wochenende, als wir ihn gefunden haben. Samstag früh. Am Montagmorgen hätte er wieder in Montreal sein sollen.«
»Hätte es nicht auch ein Unfall sein können? Vielleicht ist er ja einfach ins Wasser gefallen und ertrunken.«
»Er ist nicht ertrunken«, sagte Ross.
»Er wurde erschlagen«, sagte Grimsby, »und wurde dann ins Wasser geworfen. Es war Mord, so viel ist klar.«
Das anschließende Schweigen dauerte fast zwanzig Sekunden.
»Wissen Sie, womit er erschlagen wurde?«, fragte Christine Keller. Sie bereute die Frage sofort. Es war zwar ausgeschlossen, dass ihre beiden Kollegen von der abstrusen Theorie wussten, die ihr die
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