Silberfieber
Digby kam es ihr nun auch nicht mehr an. Die letzten einhundertfünfzig Kilometer musste sie bei völliger Dunkelheit zurücklegen. Dennoch kam sie auf der vierspurigen Küstenstraße 101 mit dem silbergrauen Toyota Camry, den sie in Halifax gemietet hatte, gut voran. Sie fror in der anbrechenden Nacht, die Luft kam ihr kälter vor als in der Schweiz oder in London, aber sie wusste nicht, ob der Eindruck auf den Wind und die Nähe des Meeres oder auf ihre Müdigkeit zurückzuführen war. Sie schätzte, dass ihre innere Uhr spätestens nach dem Abflug aus London durcheinandergeraten war. Sie war nicht auf einen Weiterflug in die Schweiz eingestellt gewesen, geschweige denn auf einen Ferntrip an die kanadische Ostküste. Der Morgen, an dem ihr Frank Schönbecks Freundin eine abstruse Geschichte von einem Raubüberfall auf ihren Freund erzählt hatte, schien Wochen zurückzuliegen. Sie hatte schon Mühe, sich an den Namen zu erinnern. Katja Ahlers, nein Albers, so hatte sie geheißen. Sie hätte jeden für verrückt erklärt, der ihr erzählt hätte, dass sie fünf Tage später in der Neuen Welt, am anderen Ufer des Atlantiks, durch die Nacht fahren würde, um sich mit Kollegen eines kleinen Police Departments der Provinz Nova Scotia zu treffen, die genau wie sie den Mann jagten, den Katja Albers Einstein genannt hatte.
Letzten Freitagmorgen in Hamburg hatte sie Schönbecks Freundin insgeheim für ein bisschen verrückt gehalten. Nur die an der Heizung festgemachten Handschellen und das überzeugende Auftreten der jungen Frau hatten sie dazu veranlasst, sich überhaupt hinzusetzen und ihr Notizbuch aufzuklappen.
Christine Keller war überzeugt, dass sie mit Hilfe der kanadischen Kollegen die Morde an Professor Pfleiderer und dem bedauernswerten Franz Felgendreher würde aufklären können. Dank der letzten Worte, die Felgendreher noch herausgebracht hatte, bevor er starb, stand Daniel McGuffin kurz vor der Festnahme. Am Flughafen in Montreal erwartete ihn bereits die kanadische Bundespolizei, die ihn sofort nach der Landung der Maschine aus der Schweiz festnehmen würde. Wäre die Identitätsfeststellung über den Computer in Hamburg schneller vonstatten gegangen, wäre er sogar schon in Zürich beim Einchecken für seinen Abflug nach Kanada abgefangen worden. Aber egal: So ließ sich anhand der Passagierlisten wenigstens feststellen, dass McGuffin auf den Flug AC 3476 gebucht war, den er auch angetreten hatte. Sie spürte, wie sie bei dem Gedanken an McGuffin und dem Ärger über die verpassten Gelegenheiten seiner Festnahme in den letzten Tagen wieder wach wurde. Wenn sie zwischendurch nach ihrer gebrochenen Nase tastete, um festzustellen, ob sich ihr Zustand vielleicht schon gebessert hatte, trieb ihr der Schmerz sofort die Tränen in die Augen. Aber ganz ehrlich, sie hatte es nicht einen Moment lang bedauert, dass McGuffin nicht noch in der Schweiz hatte abgefangen werden können. Dann wäre ihr zwar diese Fernreise erspart geblieben, denn Tatorte und Tathergänge konnten ohne Weiteres auch per Telefon und Faxgerät abgeglichen werden. Die interessanteste Aufgabe hätten noch die Staatsanwälte gehabt: Sie hätten entscheiden müssen, in welchem Land McGuffin für die Morde vor Gericht zu stellen war. So wie die Lage allerdings jetzt war, blieb das wohl seinem Heimatland vorbehalten, und sie selbst konnte nichts weiter dazu tun, als den Kanadiern bei der Aufklärung zu helfen. Aber sie hoffte inständig, Daniel McGuffin noch einmal gegenübertreten zu können, um ihm Handschellen anzulegen. Und vielleicht, um zu sehen, ob sie ihn mit ihren Schießkünsten nicht doch getroffen hatte.
Die vierspurig ausgebaute Straße endete am Ortseingang von Digby. Hinter dem Ort führte nur noch eine schmale zweispurige Straße weiter nach Yarmouth und von da weiter, die gesamte Westseite der Halbinsel umrundend, zurück nach Halifax. Christine Keller passierte das Ortsschild, orientierte sich zur Stadtmitte und lenkte den Camry auf den Parkplatz vor dem einzigen Verwaltungsgebäude der Stadt: ein hellgrau gestrichener, zweistöckiger und unauffälliger Bau, der nur dem Zweck diente, den Bewohnern die unvermeidlichen Behördengänge zu erleichtern. Die Fassade war wie bei den meisten Häusern im Neuengland-Stil mit schräg überlappender Holzverschalung errichtet worden. Als die Kommissarin aus dem Wagen stieg, ging an einem der beiden Seitentrakte des Hauses eine Tür auf, und jemand rief: Kommen Sie hier herüber, wir erwarten
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