Silberfieber
gibt es Gesetze und Landesgrenzen, die auch ehemals mächtige schottische Clan-Familien beachten müssen«, sagte Frank. McCully nahm sein Whiskyglas zur Hand und ließ die goldene Flüssigkeit darin kreisen, ohne etwas zu sagen. Dann blickte er Frank unvermittelt direkt an und sagte: »Richtig. Aber was würden Sie machen, wenn die Traditionen und Regeln Ihres Clans älter wären als die Gesetze der Regierungen und Länder, in denen Ihr Clan jetzt lebt?«
Frank wusste keine Antwort. Er stand auf und ging zum Fenster der Bibliothek. Er sah in den nächtlichen Park hinaus, als könnten ihm die leise im Wind rauschenden uralten Bäume von Hampstead Heath die Lösung des Geheimnisses der Seekarte von Neuschottland zuflüstern.
»Aber wie gesagt«, sprach McCully weiter, »die McCorys sind nur ein sehr kleiner Clan, und wenn man es genau nimmt, muss dieses Stoffband gar nichts zu bedeuten haben. Es kann Zufall sein, dass es ausgerechnet zusammen mit der Karte aufgetaucht ist. Uns Schotten hat es immer schon in alle Winde zerstreut, unsere Nachfahren sind jetzt auf der ganzen Welt zu Hause. Wenn Sie in irgendeinem Hafen in Neuseeland laut ›Hey, Mac‹ rufen, dann können Sie sicher sein, dass sich die Hälfte der Leute umdrehen wird, weil sich alle angesprochen fühlen«, er brach abrupt ab. »Aber ich fange an, Anekdoten zu erzählen. Nehmen wir uns doch noch mal die Karte vor.«
Frank trat vom Fenster zurück und zeigte Professor McCully die Stellen an der Karte, wo er die verschiedenen Schichten voneinander gelöst hatte. »Wir haben die Karte natürlich noch einmal daraufhin untersucht, ob sich mit der Wasserdampfmethode vielleicht noch weitere Schichten Papier von der Karte ablösen lassen. Aber das funktioniert leider nicht, die restliche Papierschicht besteht eindeutig aus einem einzigen festen Stück.«
»Ja, manchmal ist es ganz erstaunlich, welche Nebenwirkungen unsere gute alte englische Sitte des Teekochens so hervorbringen kann«, sagte der Professor lächelnd. Er drehte und wendete die Karte prüfend zwischen seinen Fingern hin und her. Frank und Peter berichteten ihm über die Nachforschungen, die Michael in Hamburg angestellt hatte, und dass die Koordinaten auf der Karte sich seiner Meinung nach auf den Untergangsort der Titanic bezogen.
»Nun«, sagte McCully, »da kann ich Ihrem Freund, ohne groß weitere Recherchen anstellen zu müssen, nur Recht geben. Wenn man mit den angegebenen Koordinaten auf der Karte nachsieht, so kommt man zu einer Stelle, die sich am äußersten rechten Rand ziemlich weit oben befinden muss. Und das ist tatsächlich die Stelle, an der das frisch vom Stapel gelaufene Passagierschiff der White Star Line, die als unsinkbar geltende Titanic, auf ihrer Jungfernfahrt im April 1912 versunken ist. Für immer und ewig liegt sie in dreitausendachthundert Meter Tiefe auf dem Meeresgrund begraben.«
Frank und Peter blickten ihn enttäuscht an. Insgeheim hatten sie damit gerechnet, dass Professor McCully nicht lange brauchen würde, um eine alternative Erklärung aus dem Ärmel zu schütteln.
»Also sind die Koordinaten auf der Karte ein reiner Witz?«, fragte Frank. »Die Stelle, an der die Titanic versank, ist doch allgemein bekannt. Micha hat erzählt, dass sie 1985 wiederentdeckt worden ist. Seitdem gibt es doch kein großes Geheimnis mehr um sie. Was soll denn daran jetzt noch so wertvoll sein?« McCully wiegte seinen Kopf hin und her.
»Ja und nein. Die Information für sich genommen dürfte tatsächlich kaum von großem Wert sein, da sie wirklich jedem zugänglich ist. Es ist allerdings gut möglich, dass derjenige, der auf der Karte die Titanic-Koordinaten eingetragen hat, einen Hinweis geben wollte.«
»Was denn für einen Hinweis?«
»Sie müssen bedenken, dass die Titanic erst 1985 wiedergefunden wurde. Es hat zwar zuvor niemand mit moderner Technologie nach dem Schiff gesucht, doch in den Köpfen der Menschen ist sie nie in Vergessenheit geraten. Immerhin hat die Titanic über siebzig Jahre lang unentdeckt auf dem Meeresgrund gelegen. Und wir wissen nicht, aus welchem Jahr die Karte stammt. Wenn jemand innerhalb der ersten siebzig Jahre seit ihrem Untergang die Titanic geortet hat, dann kann die Angabe der Koordinaten zu dessen Zeit sehr wertvoll gewesen sein. Jemand, der sich jahrelang mit der Materie beschäftigt hat, wusste vielleicht, wie er allein mit der Information über die genaue Stelle, an der die Titanic auf dem Meeresboden liegt, eine Menge Geld machen
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