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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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gestanden hatte, leer. Panisch wandte er den Kopf, kniff die Augen zusammen.
     Sie stand mitten auf der Liebknechtstraße, Fahrzeuge fuhren vor und hinter ihr. Er atmete aus. Laut und hörbar aus, langsam
     überquerte sie die letzte Fahrbahn, nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie kam auf ihn zu, ihre Turnschuhe grau durchweicht
     mit braunen Dreckringen, der Stoff ihrer Hose schwerfällig vor Nässe, der Wind presste ihn gegen ihre Beine, so fest, dass
     sich die Kniescheiben abzeichneten. Sie hatte ihre Kapuze aufgesetzt, eine Haarsträhne klebte an ihrer Schläfe, wand sich
     die Wange hinab. Sie blieb dicht vor ihm stehen.
    »Mir ist kalt«, sagte sie. »Gehen wir«, sagte sie. Sie drehte sich um, sah in Richtung U-Bahn-Station, braune Lehmdreiecke,
     strahlenförmig angeordnet, auf ihrem beigen Jackenrücken, als hätte sie auf dem Boden gesessen, auf feuchtem Lehmboden.
    »Wo haben Sie geschlafen«, fragte er.
    »Ich habe nicht geschlafen«, ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Kommen Sie, gehen wir nach Hause.«
    Sie hakte sich bei ihm unter, er starrte hinab auf ihrer beider Unterarme, ineinander verschränkt. Sie versuchte ihn zu ziehen,
     ein wenig nur, er verlagerte sein |138| Gewicht nach hinten auf die Fersen. Drückte die Knie durch, machte sich so schwer er konnte. Sie sah ihm ins Gesicht, ihre
     Augäpfel gerötet, die Lider auch, die Haut darunter dunkelviolett. Müde sah sie aus.
    »Warum sind Sie dann hergekommen«, fragte sie.
    Er hätte die Tasche mitnehmen sollen, dann könnte er behaupten, er sei zum Fotografieren hier. Er antwortete nicht. Setzte
     sich langsam in Bewegung, als sie stärker zog,
    »Meine Sachen sind auch noch bei Ihnen«, sagte sie, »mein Pass wird an Ihre Adresse geschickt.«
    In den Straßen am Alexanderplatz drängten sich Menschen in Bürokleidung, suchten nach freien Plätzen in den Restaurants. Sie
     zwangen ihn, stehen zu bleiben, Frau Potulski dicht bei ihm. Sein Mantel durchweicht, die Hose klebte an seinen Schienbeinen,
     Frau Potulski schwieg, stand neben ihm und wartete geduldig.
    »Entschuldigung«, sagte er, versuchte sich an einer Gruppe vorbeizudrängen. Als sie sich nicht rührten, drückte er einer Frau
     die Spitze des Schirmes in den Rücken, sie schrie auf.
    »Unmöglich«, sagte er, sagte es laut. Frau Potulski entschuldigte sich leise, am liebsten hätte er den Schirm genommen und
     der Frau die Spitze ins Gesicht getrieben, in die hellrot geschminkte Wange.
     
    Bei den Fahrkartenautomaten blieb er stehen, sie bemerkte es nicht, ging einfach weiter.
    »Brauchen Sie keine Fahrkarte?«, rief er ihr hinterher.
    |139| Sie drehte sich um, sah ihn an, sah zum Automaten, sah wieder ihn an, er rührte sich nicht.
    »Was erwarten Sie?«
    »Bitte. Sagen Sie einfach bitte. Bitte, Herr Mildt, könnte ich Geld für eine Fahrkarte haben.«
    Sie hielt die Hände vor ihren Mund, behauchte die Fingerspitzen, versuchte sie zu wärmen.
    »Bitte, bitte, lieber Herr Mildt«, sagte sie schließlich mit Kinderstimme, legte die Handflächen vor der Brust aufeinander,
     senkte den Kopf und sah zu ihm hoch, »bitte, bitte, lieber Herr Mildt, bezahlen Sie mir eine Fahrkarte?«
    Er antwortete nicht, berührte den Bildschirm,
zwei Euro zehn
, warf die Münzen ein, das Licht im Ausgabefach leuchtete auf, Jana Potulski rührte sich nicht, er machte eine Kopfbewegung
     in Richtung Automat, sie streckte den Arm aus, nahm die Fahrkarte aus dem Fach.
    »Danke«, sagte er, »danke schön, Herr Mildt.«
    Sie beachtete ihn nicht, schweigend schob sie die Karte in den Entwerter.
    Die U-Bahn war voll, sie standen dicht beieinander, hielten sich an einer Stange fest. Jana Potulski gähnte, gähnte unentwegt.
     Er konnte schwarze Füllungen sehen, roch ungeputzte Zähne. »Hand vor den Mund«, sagte er, die anderen Fahrgäste sahen ihn
     an.
    Sie schwieg, lehnte ihre Stirn gegen die Haltestange und schloss die Augen.

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    |141| 14.
    »Für mich«, fragte sie, deutete auf den Zettel an der Haustür.
    »Nein«, er zog an dem Papier, die Reißzwecke blieb stecken, er würde sie später aus dem Holz ziehen müssen.
    Er öffnete die Wohnungstür, ließ ihr nicht den Vortritt, es war warm im Flur, Jana Potulskis Schritte dicht hinter ihm, leise
     schloss sie die Tür. Er hörte den Reißverschluss ihrer Jacke, sie zog ihn herab, er tat den Schirm zum Abtropfen in die Badewanne,
     seine Mütze hängte er über den Wasserhahn. Frau Potulski kniete vor der Garderobe, löste die Senkel ihrer

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