Silberfischchen
liegen lassen, bis die Insekten kamen. Zuerst die Fliegen,
durch irgendeine Spalte würde eine Fliege in die Wohnung eindringen, war vielleicht schon da. Würde ihre Eier legen in Ohren,
Nase, Mund, er würde mit offenem Mund sterben, die Zunge in den Rachen gestaucht, die Zähne gelb und trocken. Weiß getrockneter
Speichel, |131| um die Lippen, in den Mundwinkeln, im Rachen und auf der Zunge. Mit offenem Mund und offenen Augen, Einfallstore für die Insekten,
unablässig ihn umkreisend, flügelschlagend, Eier legend auf ihm, über ihm, in ihm.
Er zog die Knie an, zog sich zusammen, das Bett vibrierte, bemerkte er erstaunt. Nein, sein Körper vibrierte, zitterte, er
konnte keine Tränen fühlen, presste die Wangen gegen seine Handrücken, seine Wangen waren trocken. Sein Körper wurde steif,
krampfte, er presste die Zähne zusammen, konzentrierte sich auf den Druck zwischen den Kauflächen, »Polackin«, wimmerte es
zwischen seinen Vorderzähnen hindurch, »gottverdammte Polackin.«
Er blieb liegen, bis sich der Tag durch die Vorhänge abzeichnete. Zwei kleine helle Quadrate oben, zwei größere unten und
in der Mitte, dunkel, das Fensterkreuz.
Nach dem Duschen machte er Tee, blieb neben dem Kessel stehen und wartete, bis das Wasser kochte. Auf dem Küchentisch lag
noch immer die Ausrüstung, er hatte keine Lust, sie in die Dunkelkammer zu bringen, den Tisch freizuräumen. Vorsichtig nahm
er die Tasse am Henkel, die Holzflächen im Wohnzimmer glänzten gewischt, vier Streifen auf einem der Regalbretter, er setzte
sich auf die Couch, neben den dunklen Fleck vom Vortag. Das Leder fühlte sich nicht mehr nass an, seltsam steif nur. Er pustete
in den Tee, warme Feuchtigkeit legte sich dünn auf seine Wangen, wurde kalt auf seiner Haut, er wischte sie mit dem Pyjamaärmel
ab.
|132| Vor ihm, fein säuberlich aufgereiht wie Vorwürfe, lagen ihre Sachen. Auf dem Boden unter dem Couchtisch die Tasche. Er berührte
das T-Shirt, die Bürste, strich mit dem Finger über sie, als würde er sie streicheln. Sammelte die Sachen ein, tat sie in
die Tasche und trug alles in die Küche. Nach dem Lineal musste er lange suchen, fand es schließlich im Sideboard im Wohnzimmer,
legte es auf den Küchentisch. Legte es möglichst gerade hin, akkurat an der Tischkante ausgerichtet. Zuerst nahm er die Bürste,
tat sie neben das Lineal und holte einen Farbfilm. Er musste nahe ran, damit die Zentimetereinteilung des Lineals erkennbar
war, zog die Vorhänge zu, er wollte keine Lichtreflexe auf dem Bürstenstiel. Sein Zeigefinger drückte den Auslöser, der Auslöser
klackte, spannen, klack, spannen, klack, spannen. Er fotografierte alles, von mehreren Seiten, als Letztes die Tasche, sie
war so groß, dass er auf das Lineal verzichten musste.
Es war Unsinn, was er tat, er wusste, es war Unsinn, was sollte er mit den Bildern anfangen.
Er versuchte es mit dem grünen Sessel, sich hinsetzen, sitzen bleiben, die Zeitung von der ersten Seite bis zur letzten lesen,
jedes Bild, jeden einzelnen Buchstaben, jede Zahl, wenigstens mit den Augen streifen. Sitzen bleiben, sie würde wiederkommen,
frieren, hungrig sein, dankbar vielleicht. Die Zeitung zitterte in seinen Händen, auch noch, als er die Ellbogen auf den Sessellehnen
aufstützte. Schließlich gab er auf, las die Zeitung im Gehen, Blatt für Blatt, den Teil, den er noch zu lesen hatte, unter
einen Ellbogen geklemmt. Nach |133| einer Weile begann die Muskulatur der Schulter zu krampfen, dann wechselte er unter den anderen Ellbogen. Zwischen Zeitung
und Bauch konnte er seine Füße sehen. Der linke bewegte sich vorwärts, weinroter Pantoffel. Das Leder über den Zehen zu Wülsten
zusammengeschoben, die Falten hellgescheuert. Er hatte keine Socken angezogen, die Haut an seinem Knöchel war weiß, vereinzelt
nur von Haaren bewachsen, an den Seiten dunkle Adern, die unter der Fußsohle verschwanden. Er verlagerte sein Gewicht nach
vorn, verwundert, dass der Knöchel es trug. Der andere Fuß bewegte sich vorwärts, weinroter Pantoffel, geschwollene Adern
an der Innenseite, auf dem Spann, die Wülste des Pantoffels hellgescheuert.
Die Blätter, die er durchgelesen hatte, ließ er einfach fallen. Die meisten landeten ausgebreitet und flach auf dem Boden,
andere falteten sich im Fallen ein wenig zusammen, bildeten Zelte auf den Dielen. Bis er das nächste Mal vorbeikam, seine
Pantoffeln sie flachtraten, seine Schritte sie
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