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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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Grieß schmeckte gut, war sehr heiß, er musste pusten.
    »Das Kind ist gestorben.«
    Er hielt inne, der Löffel auf halbem Weg zu seinem Mund, er ließ ihn wieder in das Schälchen sinken.
    »Welches Kind«, fragte er, versuchte sich an die Namen zu erinnern, »Matthias?«
    Sie sah auf die Tischplatte, wischte einen kleinen Klumpen Grieß mit dem Zeigefinger auf, steckte den Finger in den Mund.
     Er wartete.
    |154| »Ich habe es immer zur Arbeit mitgenommen. Den Stuhl in die Ecke geschoben, so dass es rausgucken konnte. Es hat gern den
     Passanten zugeschaut«, ihre Stimme ruhig und gleichmäßig. »Es war schwerstbehindert«, sie zog das Wort in die Länge, »es wollte
     die Haare haben. Die vom Fußboden. Hatte sie gern in den Fingern, hat sie in den Mund gesteckt, darum musste ich sie ihm wegnehmen.«
     Sie lächelte.
    »Was für Haare?« Er war verwirrt, sie beachtete ihn nicht, ihr Löffel lag vergessen in der Schale.
    »Als es klein war, war es einfach. Irgendwann konnte ich es nicht mehr heben. Und wütend ist es geworden, hat mit dem Kopf
     nach mir gestoßen. Hat versucht, meine Hand einzuklemmen, zwischen Kopf und Schulter. Manchmal habe ich es dann gekniffen.
     Es hat immer gleich Flecken gekriegt, blaue Flecken, lila Flecken, rote Flecken.« Sie hielt inne, starrte auf den Tisch.
    Er musste sich räuspern, »das ist Misshandlung Schutzbefohlener, Frau Potulski, das ist strafbar.«
    Ratlos sah sie ihn an.
    »Es war nicht gut. Sie hat immer gesagt, sie kommt nach Poznań, wenn sie Urlaub hat und sucht eine Einrichtung, in der es
     leben kann. Sie hatte nie Urlaub. Es hat angefangen zu bluten, als ich es gebadet habe. Bist du verletzt, habe ich gefragt.
     Es hat nur den Kopf gegen die Schulter gepresst, meine Hand eingeklemmt, da habe ich gesehen, dass es zwischen seinen Beinen
     hervorkam. Es hat angefangen, Haare zu kriegen, das macht nichts, habe ich gedacht, Haare wachsen, da kann sein, was will,
     Haare wachsen.« Ihre Hand griff nach ihrem Ohrläppchen. Sie nahm es zwischen Daumen |155| und Zeigefinger, schien nach etwas zu tasten, drückte es zusammen, ließ los, drückte es wieder zusammen.
    »Ich habe in Rheinsberg angerufen und gesagt, es geht nicht mehr, sie soll sofort kommen.« Sie blickte auf, als wollte sie
     nachprüfen, ob er ihr glaubte. Er sah starr auf ihre Hände, betrachtete jeden Fingerknöchel einzeln.
    »Kurz darauf ist es krank geworden. Hat hohes Fieber gekriegt und konnte nichts mehr essen, alles ist aus ihm herausgelaufen.
     Im Krankenhaus haben sie ihm Antibiotika gegeben.«
    Dumm und sentimental. Sie hielt ihn für dumm und sentimental. Und leichtgläubig.
    »Ich habe sie angerufen. Immer wieder. Sie ist nicht ans Telefon gegangen und die Familie auch nicht, und sie war doch die
     Mutter.«
    Hatte gelogen und war erwischt worden und versuchte es nun mit Kindern. Mit behinderten Kindern.
    »Dann ist es gestorben, nachts. Ich habe geschlafen, das Krankenhaus hat am Morgen angerufen.«
    Mit toten behinderten Kindern, mit Tränen, er war sich sicher, sie würde weinen. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wartete.
     Auf Rotz und Zucken, unkontrolliertes Einatmen, rote Augenlider. Wollte ihn einwickeln. In Sicherheit wiegen, bis er nicht
     mehr achtgab.
    »Ich habe ein paar Sachen eingepackt und bin zu ihr gefahren. Nach Rheinsberg. Habe vergessen, bei der Arbeit anzurufen«,
     sie lächelte wieder. »Die Chefin wird böse sein. Sie mochte das Kind nicht. Und den |156| Reisepass habe ich vergessen, hatte nur meine Identitätskarte im Portemonnaie, ich wusste nicht, ob das genügt. An der Grenze
     habe ich mich auf der Toilette eingeschlossen, und niemand hat gefragt. Sie war nicht da. Das Haus verschlossen, die Fenster
     dunkel, die Vorhänge vorgezogen. Ich habe geklingelt, die Klingel war laut in dem leeren Haus, schließlich habe ich mich auf
     die Stufen vor dem Eingang gesetzt und gewartet. Die Nachbarin ist gekommen, sie gießt die Blumen, sagte sie. Alle im Urlaub,
     sagte sie, schon seit Tagen. Meine Tochter ist auch gefahren, mit einem Freund, die Nachbarin kannte seinen Namen nicht.«
    Sie zog die Schultern hoch, ließ sie wieder sinken.
    »Es war spät. Der nächste Zug ging erst am nächsten Morgen. Ich habe mir eine Bank gesucht. Sie waren dumm und betrunken,
     und sie hatten ein Messer. Einer hatte einen Pullover mit alt aussehenden Buchstaben, goldenen Buchstaben,
Sieg
stand auf seiner Brust. Ich habe ihnen das Portemonnaie gegeben, meine Ohrringe.« Sie tastete

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