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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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grinsen“, wies Ariel ihn zurecht. „Beeil dich.“
    Sie waren an zahllosen Gängen vorbeigeflogen und näherten sich jetzt den oberen Regionen des Baums. Schatten hatte ein mulmiges Gefühl, als sich sein Magen zusammenkrampfte. Er war noch nie so hoch oben gewesen. Der Hauptstamm hatte ein stumpfes Ende, aber Merkur führte sie in einen Ast, der sich steil nach oben drehte und mit Knicken und Windungen in den Himmel ragte.
    In der Spitze des Astes hingen die vier Ältesten der Kolonie und unterhielten sich leise, als Schatten und seine Mutter unter ihnen landeten. Merkur flatterte zu Frieda und flüsterte ihr etwas ins Ohr, bevor er sich in einen schmalen Spalt im Schatten der Kammer zurückzog und darauf wartete wieder gerufen zu werden.
    Aurora, Bathsheba, Lukretia und Frieda: Schatten kannte die Namen der Ältesten, aber er hatte nie mit ihnen gesprochen. Er betrachtete sie aus einer gewissen Entfernung und fühlte so etwas wie Ehrfurcht. Sie waren alle vier alte Fledermäuse und über die Zeit des Kinderkriegens weit hinaus. Für Schatten war es ungewohnt, Weibchen in ihrem Schlafbaum ohne Junge in der Nähe zu sehen. Frieda war von den Vieren die Betagteste und für Schatten die Geheimnisvollste. Ihr genaues Alter wusste man nicht, aber niemand in der Kolonie der Silberflügel konnte sich an eine Zeit erinnern, als sie noch nicht die Erste unter den Ältesten gewesen war. Ihre Flügel waren zerknittert, aber noch geschmeidig und stark, und ihre Krallen waren knotig wie die Wurzeln eines alten Baumes, aber gefährlich scharf. Nach den Aussagen von Schattens Mutter war sie noch eine erbarmungslose Jägerin. Das Fell in ihrem Gesicht enthielt jetzt mehr Grau als Silber oder Schwarz, und an ihrem Körper gab es ein paar abgeschabte Stellen, die wahrscheinlich nur Zeichen des Alters waren, von denen aber Schatten gerne geglaubt hätte, wenigstens einige von ihnen wären alte Narben von Kriegsverletzungen.
    Das Geheimnisvollste an Frieda war der schmale Metallring um ihren linken Unterarm. Keine andere Fledermaus in der Kolonie hatte so etwas. Auf Schattens mehrmalige Fragen danach hatte seine Mutter nur den Kopf geschüttelt und ihm erklärt, dass sie nicht wusste, wo der Ring herkam und wie Frieda ihn bekommen hatte. Die anderen Jungen waren genauso unergiebig. Es gab ein paar halbherzige Vermutungen, aber – und das machte Schatten immer wütend – niemand schien besonders neugierig oder interessiert: Frieda hatte einen Ring und, soweit es sie betraf, war’s das.
    „Ihr seid ja gerade noch mal davongekommen, wie man hört“, sprach Frieda sie nun an. „Aber warum wart ihr so spät noch draußen, Ariel? Was ist passiert?“
    „Ich habe Schatten gesucht.“
    „Hatte er sich verirrt?“ Die Frage kam von Bathsheba, und ihre raue Stimme machte Schatten kribbelig.
    „Nein“, sagte Ariel. „Er hat törichterweise Chinook herausgefordert. Sie haben auf den Sonnenaufgang gewartet.“
    „Wo ist Chinook?“, fragte Frieda.
    „Er ist in Sicherheit. Er war vernünftig genug, vor dem Sonnenaufgang in den Baumhort zurückzukommen.“
    Schatten runzelte die Stirn. Er musste sich zwingen den Mund zu halten. Vernünftig genug? Chinook hatte Schiss gehabt, er war davongeflogen wie eine ängstliche Motte!
    „Dein Sohn aber ist geblieben“, sagte Frieda und starrte Schatten so durchdringend an, dass er auf seine Füße blicken musste.
    „Ja, und ich habe ihn gerade noch rechtzeitig gefunden. In dem Baum wartete schon eine Eule darauf, ihn sich zu schnappen.“
    „Aber die Sonne ist aufgegangen, bevor ihr den Baumhort erreicht habt“, sagte Bathsheba bissig.
    „Ja“, antwortete Ariel niedergeschlagen.
    In der Behausung der Ältesten herrschte ein kurzes, schreckliches Schweigen. Und als Bathsheba als Nächste sprach, traute Schatten seinen Ohren nicht.
    „Dann hättest du deinen Sohn der Eule überlassen müssen.“
    „Ich weiß“, sagte Ariel.
    Entsetzt schaute Schatten sie an.
    „So ist das Gesetz“, fuhr Bathsheba fort.
    „Ich kenne das Gesetz.“
    „Warum hast du es dann gebrochen?“
    Schatten sah, wie in den Augen der Mutter wieder der Zorn aufloderte. „Ich habe getan, was jede Mutter getan hätte.“
    Das Gefühl, verraten worden zu sein, das Schatten noch vor wenigen Sekunden gehabt hatte, wurde von einer Woge des Stolzes und der Liebe zu seiner Mutter weggespült. Bathsheba wollte gerade eine ärgerliche Antwort auf Ariels Worte geben, aber mit einem sanften Wusch breitete Frieda ihre Flügel

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