Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
Vom Netzwerk:
Vögel erkennen, die sich gerade in ihren Nestern und auf ihren Ästen zu rühren begannen, in den Morgengesang einstimmten und das Gefieder aufplusterten. Schlafende Vögel gehörten zu seiner nächtlichen Welt, aber er hatte noch nie so viele von ihnen im wachen Zustand gesehen, und jetzt meldeten sich einige überrascht, als er und Chinook vorbeiflitzten.
    Sie erreichten die Hügelkuppe und ließen sich auf dem höchsten Baum nieder, eng an den Stamm gepresst, um nicht aufzufallen. Vor ihnen erstreckte sich in einer Biegung das ausgedehnte Tal, ein Baldachin von Baumwipfeln, unterbrochen nur von der einzigen staubigen Straße, die die Menschen durch den Wald geschlagen hatten. Noch nie hatte er da etwas gesehen, keinen Menschen, keines ihrer lauten Fahrzeuge. Die Silberflügel waren von fast allem sehr weit entfernt, sagte seine Mutter immer.
    Überall schwoll jetzt der morgendliche Chorgesang an.
    „Warum willst du überhaupt die Sonne sehen?“
    „Ich will sie einfach sehen.“
    „Wozu?“
    „Ich bin neugierig. Du etwa nicht?“
    Eine kleine Pause. „Nein.“ Noch eine Pause. „Und wenn sie uns nun in Staub verwandelt?“
    „Sie verwandelt auch sonst nichts in Staub.“
    Er genoss die Situation: Zur Abwechslung hörte ihm Chinook tatsächlich einmal zu. Es war fast so, als hätte Chinook es nötig, beruhigt zu werden.
    „Meine Mutter hat mir eine Geschichte von einer Fledermaus erzählt. Ihre Flügel und Knochen und Zähne, alles nur noch ein Haufen Staub.“
    „Nur eine Geschichte.“
    Aber in der Magengegend spürte er doch ein wenig Angst.
    „Lass uns zurückfliegen“, sagte Chinook nach einer Weile. „Wir können den anderen erzählen, dass wir sie gesehen haben. Wir behalten es für uns, okay?“
    Schatten überlegte. Chinook wollte etwas von ihm. Er genoss dieses Gefühl von Macht.
    „Flieg nur“, sagte Schatten. Er selbst würde nicht abhauen. Er wollte keine Abstriche von seinem Sieg über Chinook.
    Der Himmel war im Osten jetzt sehr hell, heller als er ihn je gesehen hatte. Er spürte einen brennenden Schmerz in den Augen und kniff sie zu. Wenn die Geschichten nun doch stimmten? Wenn ihn die Sonne nun doch blind machen würde?
    „Nicht mehr lange“, murmelte er.
    Chinook rückte an dem Ast hängend hin und her, seine Flügel raschelten gegen die Borke.
    „Schhhhh“, zischte Schatten ihm zu. „Da drüben.“ Er deutete mit dem Kinn.
    In einem nahen Baum saß stocksteif eine Eule, fast verborgen hinter einem Vorhang von Blättern.
    „Hast du etwa Angst?“, flüsterte er Chinook zu. „Eine starke Fledermaus braucht sich vor nichts zu fürchten.“
    Schatten selbst hatte Angst, aber er glaubte, dass die Eule sie nicht gesehen hatte. Selbst wenn sie sie entdeckt hatte, durfte sie sie nicht angreifen, bevor die Sonne aufgegangen war. Das war das Gesetz. Er glaubte aber nicht, dass Chinook das wusste. Es gehörte nicht zu den Dingen, die Mütter ihren Kleinen erzählten. Er selbst wusste es nur, weil er mitbekommen hatte, wie sich seine Mutter mit einer der Ältesten der Kolonie unterhalten hatte, als sie glaubte, er schliefe. Das war wohl der einzige Vorteil, wenn man ein Knirps war. Als er noch jünger gewesen war, hatte sie ihn überallhin mitgenommen, sogar zu besonderen Treffen der Erwachsenen. Auf diese Weise hatte er eine ganze Menge aufgeschnappt.
    Die Eule schrie Furcht erregend und Schatten sträubte sich das Fell. Dann erhob sich der Vogel aufgeregt von seinem Ast und flog mit geräuschlosen Flügelschlägen davon.
    Schatten stieß den angehaltenen Atem aus.
    „Ich – ich kann nicht“, sagte Chinook, ließ sich vom Ast fallen und machte sich mit kräftigen Flügelschlägen schnell zum Baumhort davon. Schatten sah ihm nach, wie er hinter dem Laub verschwand. Er war auf merkwürdige Weise enttäuscht und wusste nicht, warum.
    Nun konnte er auch verschwinden.
    Er hatte gewonnen.
    Aber das war ihm nicht genug. Zu seiner eigenen Überraschung wollte er mehr. Er wollte wirklich die Sonne sehen. Er wollte das, was ihnen absolut verboten war.
    Oberhalb der Bäume breitete sich über das Tal ein Streifen weißes Licht aus. Er war überrascht, wie lange das alles dauerte. Der Himmel war schon zur Hälfte hellgrau, und immer noch war keine Sonne zu sehen. Wo blieb sie nur?
    Er blinzelte, drehte sich um und stellte fest, dass er direkt auf eine Wand aus dichten Federn starrte. Er schaute hoch – in riesige Augen mit schweren Lidern, die Augen einer Eule, die am Ende seines Astes

Weitere Kostenlose Bücher